Bildungsbegriff und Bildungspolitik im Liberalismus

 

Karl-Heinz Hense

 

 

"Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Nei­gung, son dern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedin­gung." So lauten die ersten beiden Sätze des zweiten Kapitels aus Wilhelm von Humboldts berühmter Schrift "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen", die er 1792 erstmals veröffent­licht hat. Die Gedanken der Aufklärung und des Humanismus, das heißt: der Sorge um den Menschen und um sein Handeln auf Erden, führt Hum­boldt zusammen in seiner Vorstellung eines von der Vernunft geleiteten, freien Individuums, das Verantwortung übernimmt nicht nur für sich und für sein eigenes Leben, sondern auch für das Wohlergehen der Gemein­schaft. Der Staat hat dabei eine dienende Funktion, er hat Schutz zu bieten und in bestimmten Bereichen einen Rahmen zu setzen, der die Freiheit des Einzelnen nicht beschneiden, sondern ermöglichen und garantieren soll. Die Freiheit des Individuums ist also der Dreh- und Angelpunkt; ohne diese Freiheit kann es keine dem Wesen des Menschen gemäße Humanität geben. Und die Bildung der Persönlichkeit durch die Aneignung von Wissen sowie durch sittliches Verhalten ist die zentrale Aufgabe, ja, der "wahre Zweck des Menschen", dem er seiner Vernunft gemäß zustreben soll.

 

Von diesem Menschenbild ließen sich die Liberalen in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts in ihren politischen Bestre­bungen leiten. Sie verfolgten das Ziel, die Vorherrschaft des Klerus und der Konfessionen in Bildungs­fragen, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts andauerte, zurück­zudrängen und säkularisierte Bildung entweder durch den Staat oder durch weltliche Einrichtungen an ihre Stelle zu setzen. Keines­falls, so führte Humboldt aus, dürfe sich der Staat der Kirchen und ihrer religiösen Ziele in Bildungsfragen bedienen. Vielmehr müsse jeder Einzelne frei entscheiden können, welche Rolle er der Religion in seinem Leben zuerkennen will.

 

Folgerichtig entwarf Humboldt nicht nur in der Theorie, sondern in seiner kurzen Zeit als preußischer Beamter auch in der Praxis ein Schulsystem, das von der Volksschule über die Höhere Schule bis zur Universität (die in Berlin nach ihm benannt ist) lediglich auf die säkula­risierte, von konfessionellen und weitgehend auch von staatlichen Vorgaben befreite Bildung der Persönlichkeit gerichtet war. Heinrich Weinstock, ein intimer Kenner der Humboldtschen Schriften, drückt es wie folgt aus: "Die Sorge für das Seelenheil - das freilich für ihn nicht in einem Jenseits zu erhoffen, sondern hienieden als Bildung der Person zur idealen Persönlichkeit zu erringen war - hat Humboldt sich (...) bewußt zur Richt­schnur fürs Leben genommen."

 

Erstaunlich modern mutet an, daß Humboldt den zentralen Ansatzpunkt für diese humanistische Persönlichkeitsbildung in der Sprache sah. Die Sprache war für ihn der Inbegriff des menschlichen Vermögens, der Welt und den Ideen, die in ihr walten, Gestalt und Ausdruck geben zu können. Wenngleich der Religion abgeneigt, so dachte Humboldt die Welt doch nicht als einen sinnlosen Ort, dem der Mensch erst einen Sinn geben müßte, wie es in modernen Vorstellungen etwa der Lebensphilosophie formuliert wird; für ihn war die Welt gemäß der griechischen Ideen-Lehre sinnvoll geordnet, es ging nur darum, diese Ideen zur Sprache zu bringen.

 

Wenn wir uns heute die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie ansehen, so stel­len wir fest, daß in der Tat das Beherrschen der Sprache den Grundstock darstellt, die Voraussetzung für alle andere Bildung. Horst Wolfgang Boger vom Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung drückt es mit folgenden Wor­ten aus: "Wer dagegen ungern, ohne Verständnis und dazu noch wenig liest, muß in Mathematik und Naturwissenschaften eher auf schlechte Leistungen gefaßt sein." Dieser wissenschaftliche Befund scheint Humboldt zweihundert Jahre zuvor schon intuitiv bewußt gewesen zu sein.

 

Wir sollten freilich nicht übersehen, daß zu Humboldts Zeit Bildung als Persönlichkeitsbildung noch ein Privileg der oberen Schichten war. Für die unteren und mittleren Schichten war über die Volksschulbildung hinaus alles Weitere in der Regel nur durch Protektion zu erreichen; jedenfalls war Anpassung an die herrschenden Verhältnisse so gut wie unabdingbar, wenn jemand aus dem gemeinen Volk mittels Bildung hoch hinaus wollte.

 

Immerhin setzte mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts eine stürmische Entwicklung ein, die der Schulbildung immer größere Bedeutung für alle Schichten des Volkes erschloß. Wenn es auch noch mehr als hundert Jahre dauern sollte, bis der deutsche Feudalismus abgewirtschaftet hatte, so for­derten doch schon um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert selbstbe­wußte Intellektuelle unmißverständlich die Befreiung des Denkens aus der Unterdrückung durch Adel und Klerus. Kaum ein anderer Text der damali­gen Zeit stellt diese Forderung so prägnant dar wie Johann Gottlieb Fichtes berühmte Rede von 1793 "Zurückforderung der Denkfreiheit von den Für­sten Europens, die sie bisher unterdrückten". Der erste Satz dieser Rede lautet wie folgt: "Die Zeiten der Barbarei sind vorbei, ihr Völker, wo man euch im Namen Gottes anzukündigen wagte, ihr seiet Herden Vieh, die Gott deswegen auf die Erde gesetzt habe, um einem Dutzend Göttersöhnen zum Tragen ihrer Lasten, zu Knechten und Mägden ihrer Bequemlichkeit und endlich zum Abschlachten zu dienen; daß Gott sein unbezweifeltes Eigen­tumsrecht über euch an diese übertragen habe und daß sie kraft eines göttli­chen Rechts und als seine Stellvertreter euch für eure Sünden peinigten: ihr wißt es oder könnt euch davon überzeugen, wenn ihr es noch nicht wißt, daß ihr selbst Gottes Eigentum nicht seid, sondern daß er euch sein göttliches Siegel, niemandem anzugehören als euch selbst, mit der Freiheit tief in eure Brust eingeprägt hat."

 

Mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und der damit einherge­henden Auflösung der ständischen Ordnungen gewannen Konzepte der Volksbildung, die von Johann Heinrich Pestalozzi, Friedrich Fröbel und anderen Pädagogen entwickelt wurden, an Bedeutung. Kennzeichnend für die liberalen Ansichten zur schulischen Entwicklung blieb die Lösung von kirchlicher Bevormundung, die in der Reichsverfassung von 1849 und im Preußischen Schulaufsichtsgesetz von 1872 festgeschrieben wurde. Während sich das Schulwesen in der Folge immer mehr differenzierte, Mittelschulen und Realschulen entstanden, die berufliche und die Bildung der Mädchen sich entwickelten, blieb die liberale Schule eine staatliche Schule, eine "Veranstaltung des Staates", wie es schon 1794 im Preußischen Landrecht geheißen hatte. Abgesehen von marginalen Ansätzen einer "frühliberalen Staatsschulfremdheit" (von der der Pädagoge Hans-Jürgen Toews spricht) entschied sich die liberale Politik im 19. Jahrhundert, ja, bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, für die Staatsschule als Standard.

 

Zu den Aufgaben der staatlichen Schulen gehörte bis 1918 auch die Stabilisierung der Monarchie und die Zulieferung möglichst willfähriger Untertanen. Die Humboldtsche Vorstellung von einem auch von staatlicher Beeinflussung freien Bildungswesen ließ sich nicht durchsetzen. Vor allem an den Universitäten (Fichte war 1811/12 der erste gewählte Rektor der Berliner Universität), aber auch in oppositionellen Kreisen des Bildungs- und Besitzbürgertums regte sich indessen anhaltender Widerstand, der die dynastische Ordnung immer wieder herausforderte. Dieser Widerstand formierte sich auch in den demo­kratischen und freisinnigen Parteien; ein Beispiel für einen Liberalen, der dem devoten Byzantinismus deutscher Bildungseinrichtungen und des weit überwiegenden Teiles des deutschen Bürgertums zeitlebens die Stirn bot, ist der Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde, der deswegen von der Obrigkeit sogar drei Monate lang ins Gefängnis gesperrt wurde.

 

Nach 1918 schließlich, als die Fürsten abdanken mußten, wurden in der Weimarer Reichsverfassung Grundzüge eines aufgeklärten Schulrechts geschaffen, das einerseits eine noch stärkere Berücksichtigung der staatli­chen Schulhoheit sicherte, andererseits den Eltern ein allerdings in seinem Ausmaß umstrittenes Recht auf Errichtung von Konfessionsschulen ein­räumte. Daran knüpfte, nach dem einseitig an der Nazi-Ideologie ausgerich­teten Schulrecht zwischen 1933 und 1945, die Politik nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an.

 

Hervorzuheben ist in der Entwicklung der allgemeinen Vorstellungen von Bildung, aber auch in der Entwicklung des liberalen Bildungsbegriffes die spätestens in der Weimarer Republik wirksam werdende Überzeugung, daß zur Bildung der Persönlichkeit auch die Bildung zum Staatsbürger gehöre. Friedrich Naumann, dessen Anliegen es war, "aus Industrieuntertanen Industriebürger zu machen", gründete kurz vor seinem Tod im Jahre 1919 die "Deutsche Hochschule für Politik" (DHP). Antonio Missiroli, der sich mit der DHP ausführlich befaßt hat, beschreibt eines ihrer Motive wie folgt: "... das nach dem Umsturz von 1918 verstärkte Bedürfnis einer an der Wei­marer Republik orientierten staatsbürgerlichen Erziehung (...), das heißt einer rechtsverbindlichen demokratischen Erziehung des zunächst 'unpolitischen' deutschen Volkes ..." Dem liegt der Emanzipationsgedanke zugrunde, den schon Humboldt und Fichte der Aufklärung entlehnt hatten: Statt sich fremdbestimmt und bevormundet in sein Geschick zu ergeben, soll der Bürger nun mittels Bildung das Vermögen erlangen, sein Leben selbst zu gestalten und auch in der Politik nach demokratischen Regeln selbst für die Umstände des Zusammenlebens der Menschen verantwortlich zu sein.

 

Für den späten Erfolg des politischen Emanzipationsgedankens in den Bil­dungskonzeptionen des beginnenden 20. Jahrhunderts ist schließlich von ausschlaggebender Bedeutung, daß mit dem Siegeszug der Wissenschaften Bildung und Wissenschaft häufig synonym verstanden wurden. Höhere Bildung war vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem wissenschaftliche Bildung, die an den Universitäten erworben wurde. Akademische Kritik am feudalen System jedoch war unerwünscht. Unter besonders argwöhnischer Beobachtung der Obrigkeiten standen die geisteswissenschaftlichen Fächer.

 

In welchem Maße sich Bildung nun von ihren herkömmlichen humanisti­schen Konnotationen trennen müsse, um mit wissenschaftlicher und techni­scher Entwicklung Schritt zu halten, blieb ein Streitpunkt, der bis heute nicht entschieden ist - wenn er denn überhaupt entschieden werden kann. Das von Georg Picht 1964 veröffentlichte Buch "Die deutsche Bildungskata­strophe" etwa beklagt, daß die deutschen Bildungsanstalten zukünftigen Herausforderungen der beruflichen Praxis und gesellschaftlicher Verände­rung nicht angemessen begegnen könnten, während Ralf Dahrendorf mit seinem einflußreichen Buch "Bildung ist Bürgerrecht" dezidiert der eman­zipatorischen Funktion von Bildung den Vorrang einräumt. In der moder­nen Hochschullandschaft spiegelt sich diese Ambivalenz in der Unterschei­dung von wissenschaftlichen und anderen Hochschulen. Die Einheit von Forschung und Lehre, die Humboldt propagierte, ist in weiten Bereichen aufgehoben. Welche Fragen sich dabei einer zeitgemäßen Bildungskonzepti­on stellen, hat Theodor Litt in seinem Buch "Das Bildungsideal der deut­schen Klassik und die moderne Arbeitswelt" schon 1959 dargestellt. Er versteht die Arbeitswelt im Sinne Hegels als Antithese, in der das klassische Bildungsideal im doppelten Sinne aufgehoben werden muß: die Substanz, "die Menschlichkeit", muß bewahrt, das nicht mehr Zeitgemäße, "Widersprüchliche" beseitigt werden.

 

Demgegenüber scheint das Dahrendorfsche "Plädoyer für eine aktive Bil­dungspolitik" aus dem Jahre 1965, dem er den Namen "Bildung ist Bürger­recht" gab, dem traditionellen Ansatz einer Befreiung des Individuums aus "ungefragten Bindungen" zu folgen, der zwar auch auf die pragmatische Bewältigung der Anforderungen einer veränderten Wirklichkeit zielt, dabei aber die Verpflichtung des Bildungswesens, den Menschen zur Mündigkeit zu erziehen, nicht aus den Augen verliert. Zwar ist Dahrendorf nicht der Meinung, daß der Mensch ganz ohne Bin­dungen, ohne "Ligaturen", wie er sie 1979 in seinem Buch "Lebenschancen" nennt, auskommt, jedoch sollte er diese Bindungen bewußt eingehen können und sich nicht unreflektierten Vorurteilsstrukturen ausliefern müssen. Damit er dies nicht muß, bedarf es des Bürgerrechts auf Bildung.

 

1965, als Dahrendorf sein "Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik" schrieb, engagierte er sich in der FDP, die seinen Ansatz in ihre Program­matik übernahm. Im Jahre 1972 entwickelte die Partei ihr erstes umfassendes Bildungskonzept: die "Stuttgarter Leitlinien einer liberalen Bildungspolitik". Ausgehend vom Bürgerrecht auf Bildung legte sie damit ein von der Elementarerziehung bis zur Bildungsforschung und Bildungsplanung konsequent durchstrukturier­tes Programm für ein Offenes Bildungswesen vor, das sich am Konzept von integrierter Gesamtschule und Gesamthochschule orientierte. Als Anspruch wurde formuliert: "Das gesamte Bildungswesen - vom Kindergarten bis zu den Einrichtungen der Weiterbildung - muß ... durch Integration so offen und differenziert sein, daß für jeden ein optimales Lernen möglich wird." Drei Bildungsziele standen dabei im Vordergrund: Selbstbestimmung des Einzelnen, demokratisches Handeln und Leistungsentfaltung.

 

Diese Orientierung der liberalen Programmatik war erkennbar von den Zeitströmungen der sechziger und siebziger Jahre inspiriert, als man der überregionalen Planung vertrauen zu können glaubte und als der Enthusi­asmus eines neuen Aufbruchs zum Beispiel in den Büchern von Friedrich Edding ("Auf dem Wege zur Bildungsplanung" - 1970) oder von Paul Heimann/Günter Otto/Wolfgang Schulz ("Unterricht - Analy­se und Planung" - 1965) wissenschaftlichen Niederschlag fand. Man kann durchaus konstatieren, daß das liberale Grundsatz-Bekenntnis zur Freiheit des Einzelnen in der Programmatik der siebziger Jahre in Einklang ge­bracht werden sollte mit vom Zeitgeist geprägten, planerischen Konzepten zur Bildung der Persönlichkeit. Im bundesweit einheitlichen Korsett der Offenen Schule und Hochschule sollte jeder nach Eignung und Neigung seinen individuellen Bildungsweg finden können.

 

Heute wissen wir, daß der Weg der Bildungsplanung nicht zum Erfolg ge­führt hat. Es wäre allerdings falsch, Dahrendorf zum Kronzeugen einer libera­len Bildungsplanung ausrufen zu wollen oder ihn gar zum Sündenbock der gescheiterten Bemühungen zu machen. Im letzten Kapitel seines Plädoyers schreibt er: "Es ist in der Tat das Merkmal einer modernen freien Gesell­schaft, daß sie zwar auf Spielregeln insistiert, aber im übrigen dem Markt, dem freien Spiel der Kräfte vertraut. Moderne Unfreiheit dagegen ist durch den Versuch gekennzeichnet, den Markt durch den Plan, also das Vertrauen auf die Ungewißheit durch den Anspruch auf Gewißheit zu ersetzen. Der Anspruch auf Gewißheit ist immer ein Anspruch auf absolute Macht - und zudem eine Chance absoluten Irrtums. Eine freie Gesellschaft wird also, wo immer sie kann, auf marktrationale und nicht auf planrationale Prinzipien bauen. (...) Nur die Regeln, nach denen der Markt funktioniert, bedürfen der planmäßigen Sicherung. Das Bürgerrecht auf Bildung aber ist die Vor­aussetzung des freien Spiels der Kräfte demokratischer Politik in einer modernen Gesellschaft."

 

Die FDP folgte auch diesen Vorstellungen, indem sie 1988 ein neues "Bildungspolitisches Programm" vorlegte. Dies Programm ist weitgehend ideologisch entschlackt und fordert sehr konkrete Maßnahmen, die bis heute aktuell sind, etwa den Bund nur noch für allgemeine Rahmensetzungen zuständig zu machen, Ganztagsschulen auszubauen, die Autonomie der Schulen und den Wettbewerb zwischen ihnen zu stärken sowie private Schulen zu fördern. Für die Hochschulen wird ein höheres Maß an Frei­heit, Verkürzung der Studienzeiten und effizienteres Arbeiten gefordert. Lehre und Forschung werden strikt voneinander getrennt, allerdings bleibt die Forschung verpflichtet, "sich zentralen Fragen der Gesellschaft, der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer Folgen zuzuwen­den". Die Finanzierung der Bildung ist nach wie vor eine staatliche Aufga­be, und auch das "Bürgerrecht auf Bildung" wird beibehalten. Bildungs­chancen werden also weiterhin als "Freiheits- und Lebenschancen" ver­standen.

 

Damit ist der Weg liberaler Bildungsprogrammatik in das dritte Jahrtau­send vorgezeichnet: Staatliches Engagement wird immer mehr auf die Fi­nanzierungsverpflichtung zurückgedrängt, stattdessen treten, wie es im "Bürgerprogramm" von 2002 heißt, die "Aufgaben der Gesellschaft" in den Vordergrund. Es fällt auf, daß die liberale Programmatik den Humboldtschen Anspruch auf Bildung als Persönlichkeitsbildung kaum noch akzentuiert. Die Notwen­digkeit der Vermittlung von gesellschaftlichen Werten wie Verantwortungs­bereitschaft, Rechtsbewußtsein, Partizipationsbereitschaft, Engagement für die Freiheit, Eintreten für die Rechte von Minderheiten etc. wird nicht mehr ausdrücklich betont. Daß sie allerdings nicht vergessen werden darf, zeigt ein Blick auf unsere gesellschaftlichen Problembereiche, die geeignet sind, extremistische und kriminelle Verhaltensweisen zu fördern und sie zu einem Unsicherheitsfaktor für immer mehr Menschen werden zu lassen. Am Ende steht nicht weniger als unsere Freiheit auf dem Spiel.

 

Zweifellos sind Effizienz und Qualität von Bildung und Ausbildung in Deutschland dringend verbesserungsbedürftig. Pro Jahr verlassen rund 10 % der Schulabgänger die allgemein bildenden Schulen ohne Abschluß; etwa 25 % der Schüler, so klagt das Kuratorium der Deutschen Wirtschaft, gehen ohne ausreichende Ausbildungsreife ab. Die Lehrer sind an vielen Schulen kaum noch in der Lage, Disziplin und Lernbereitschaft aufrecht zu erhalten; fünf bis zehn Prozent aller deutschen Schülerinnen und Schüler, so schätzt der Verband Bildung und Erziehung, müssen als aktive Schulschwänzer gelten. Und wenn Joachim Starbatty, Öko­nomie-Professor in Tübingen, schreibt: "Bei Durchsicht der Klausuren gewinnt man den Eindruck, daß ein Drittel der Studenten nicht mehr in der Lage ist, einen Satz zu Ende zu schreiben", dann sollte vollends klar sein, daß es für elementare Reformen an Schulen und Universitäten höchste Zeit ist.

 

Bei all dem sollten wir aber nicht vergessen, daß wir ohne Vermittlung von Werten nicht auskommen, wenn wir unsere freiheitliche Gesellschaft, unse­ren liberalen Staat erhalten wollen. Angesichts der Herausforderungen durch rechtsradikale Parteien und durch fundamentalistische Ideologien, die unsere Verfassungsgrundsätze geringschätzen, ist der Ruf nach Vermitt­lung demokratischer Werte immer häufiger zu hören, auch aus liberalem Munde. Welche Werte aber sind gemeint, die neben einer angemessenen, praxisnahen Ausbildung vermittelt werden müssen? Der Moralphilosoph und Kantianer Otfried Höffe greift auf die klassischen Be­griffe zurück und formuliert die Werte für eine freiheitliche Ordnung wie folgt: "Offensichtlich sind Schulen und Hochschulen samt deren Verwaltung auf alle fünf Dimensionen verpflichtet: auf die ökonomischen Werte, na­mentlich die Bereitschaft, aber auch die Fähigkeit, den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, auf die allgemeinen Werte jeder liberalen Demokratie, also Recht, Menschenrechte, Gerechtigkeit und Toleranz, auf die (nicht nur) eudämonistischen Werte wie Besonnenheit, Selbstvertrauen und Kritikfä­higkeit (denn auch eine gute Demokratie kann mit törichten Bürgern keine klugen Entscheidungen treffen), auf die besonderen Werte der eigenen Demokratie und schließlich auf die weltbürgerlichen Rechte."

 

Dies ist ein anspruchsvoller und traditionsreicher Kanon. Er kann rich­tungsweisend sein für den grundsätzlichen Teil einer liberalen Bildungspolitik, deren Formulierung und Umsetzung überfällig sind.