Der Untergang der Weimarer Republik und das „Elend des Liberalismus“

 

 

Am 30. Januar 1933 ernannte der deutsche Reichspräsident Paul von Hindenburg den „Führer“ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) Adolf Hitler zum Reichskanzler. Knapp ein Jahr zuvor hätte Hindenburg den Obergefreiten des Ersten Weltkriegs allenfalls zum Postminister machen wollen.

 

Am 6. November 1932 hatten die Deutschen einen neuen Reichstag gewählt; die NSDAP war mit 33,1 Prozent der Stimmen stärkste Partei geworden. Freilich blieb sie damit hinter den 37,4 Prozent vom 31. Juli 1932 deutlich zurück. Es bedurfte nicht nur deshalb subkutaner und intriganter Bemühungen besonders des rechten Zentrumsmannes und ehemaligen Reichskanzlers Franz von Papen, damit der greise Reichspräsident und Generalfeldmarschall a.D. sich dennoch für den ihm zutiefst unsympathischen „Führer“ der NSDAP entschied.

 

Am 28. Februar 1933 erließ Hindenburg als Reaktion auf den Reichstagsbrand vom Vortag und auf Hitlers Betreiben die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat“; sie setzte unter anderem sieben substantielle Artikel der Weimarer Reichsverfassung außer kraft. Die Wahlen vom 5. März 1933 fanden vor allem deshalb schon nicht mehr unter demokratischen Vorzeichen statt; jedoch brachten auch sie nicht die absolute Mehrheit für Hitler: Lediglich 43,9 Prozent wählten die NSDAP.

 

Die liberalen Parteien der Weimarer Republik waren am 30. Januar 1933, dem Zeitpunkt der „Machtergreifung“, längst zur absoluten Bedeutungslosigkeit heruntergekommen. Hatte die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) bei den Wahlen vom 19. Januar 1919 noch stolze 18,6 Prozent erreicht, so musste sich ihre Nachfolgerin, die Deutsche Staatspartei (DStP), im November 1932 mit 1,0 Prozent begnügen. Ähnlich erging es der Deutschen Volkspartei (DVP), der auf Gedeih und Verderb mit den Wirtschaftsverbänden liierten nationalliberalen Partei der Weimarer Republik, die von ihrem besten Wahlergebnis mit 14 Prozent am 6. Juni 1920 auf 1,9 Prozent am 6. November 1932 abstürzte. – Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache und verbieten es, die desolate Situation des politisch organisierten, freiheitlichen Bürgertums am Ende der Weimarer Republik zu beschönigen; verschwindend gering war der Einfluß, den liberale Politik und Politiker noch hatten.

 

Die glanzvolle Zeit, als Gustav Stresemann Reichskanzler und danach Außenminister war, als ihm 1926, gemeinsam mit Aristide Briand für die Aussöhnung der „Erbfeinde“ Frankreich und Deutschland durch den Vertrag von Locarno, der Friedensnobelpreis verliehen wurde, war längst Geschichte. Werner Stephan, der letzte Reichsgeschäftsführer der Deutschen Staatspartei, will einen der Gründe für den Verfall des Liberalismus im gesunkenen Niveau der handelnden Personen erkennen, die im Laufe der zwanziger Jahre den Gründerpersönlichkeiten Friedrich Naumann, Hugo Preuß, Eugen Schiffer, Theodor Wolff, Ernst Troeltsch oder Gustav Stresemann in Partei- und Staatsämtern nachgefolgt waren: Sie hatten nicht das Format und schon gar nicht das Charisma ihrer Vorgänger, so argumentiert Stephan, auch nicht, wenn sie Theodor Heuss, Erich Koch-Weser, Gertrud Bäumer oder Reinhold Maier hießen. Dieser Befund mag zutreffen und zu den Ursachen des Niedergangs gehören; wichtiger indes ist aber wohl, daß es den Liberalen, die – zumindest in DDP und DStP – den republikanischen Rechts- und Verfassungsstaat verwirklichen wollten, mit ihren rationalen, nüchternen Argumenten nicht gelang, den emotional und demagogisch argumentierenden und agitierenden Nationalsozialisten und ihren Verbündeten Paroli zu bieten und sich, auch anderen Konkurrenten gegenüber, in der ideologisch aufgeheizten Atmosphäre der späten Weimarer Jahre Gehör und Geltung zu verschaffen.

 

Die „Machtergreifung“ Hitlers bildet das trostlose Ende der ersten deutschen Republik und des liberalen Rechtsstaats. Während sich aber die DDP, die sich 1930, um ihren Niedergang aufzuhalten, mit dem nationalistischen „Jungdeutschen Orden“ Artur Mahrauns zusammenschloß und sich nun Deutsche Staatspartei nannte, ausdrücklich in Opposition zu den Nazis stellte, suchte die DVP schon Ende der zwanziger Jahre unverhohlen das Bündnis sowohl mit der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) des Pressezaren Alfred Hugenberg wie auch mit der NSDAP Hitlers. Die gegensätzlichen Positionen der beiden liberalen Parteien sind auch dadurch dokumentiert, daß die letzten fünf DStP-Reichstagsabgeordneten Theodor Heuss, Ernst Lemmer, Heinrich Landahl, Hermann Dietrich und Reinhold Maier ihre Mandate durch Listenverbindung mit den Sozialdemokraten erhalten hatten, während die beiden letzten Abgeordneten der DVP auf der Basis eines von der Partei propagierten Bündnisses mit der reaktionären Rechten gewählt worden waren. Am 25. Februar 1933, also wenige Tage vor den März-Wahlen, erschien in der Zeitung der DVP, „Erneuerung“, ein Leitartikel des Vorsitzenden Eduard Dingeldey, darin heißt es: „Durch die Stärkung der Deutschen Volkspartei wird eine zukünftige nationale Mehrheit vor politischer Einseitigkeit und wirtschaftlichen Experimenten bewahrt.“ Mit der nationalen Mehrheit war die Summe der Stimmen für die NSDAP, DNVP und DVP gemeint. Hitler legte freilich ebenso wenig Wert auf die Unterstützung durch die ehemaligen Nationalliberalen wie auf die durch andere Parteien: Kommunisten und Sozialdemokraten wurden verboten, sobald das „Ermächtigungsgesetz“ vom 23. März 1933 ihm die Macht dazu gab; am 27. Juni desselben Jahres zwang er die DNVP praktisch zur Selbstauflösung, indem er ihrem Vorsitzenden, dem Minister Hugenberg, seine politische Unterstützung entzog; am 28. Juni 1933 lösten sich die DStP, am 4. Juli die DVP und die Bayerische Volkspartei auf; am 5. Juli folgte das Zentrum. Danach wurde die Neugründung von Parteien per Gesetz verboten. Einzige Partei im „Dritten Reich“ blieb die NSDAP.

 

Und wie haben die Liberalen insgesamt zur „Machtergreifung“ Hitlers gestanden, wie haben sie sich verhalten, als die Macht der NSDAP nahezu täglich wuchs und immer skrupelloser ausgeübt wurde in Staat und Gesellschaft? In beiden Parteien gab es, ansteigend nach der Weltwirtschaftskrise von 1929, Männer und Frauen, die zu den Nazis überliefen und dort sogar zu Ämtern und Würden gelangten. Ein herausragendes Beispiel bietet der Bankier Hjalmar Schacht, ehemals DDP, der bis 1937 Wirtschaftsminister und Generalbevollmächtigter für die Wehrwirtschaft in Hitlers Kabinetten war; danach blieb er noch bis 1939 Reichsbankpräsident. Auch daß er sich zur Opposition orientierte, als das Ende der Diktatur abzusehen war, und nach dem 20. Juli 1944 von den Nazis inhaftiert wurde, verbirgt seinen Opportunismus nur notdürftig. – Ähnliche Fälle dieser Art gab es auf allen Ebenen, von hilflosem Mitläufertum bis zu aktivem politischem Einsatz.

 

Erich Koch-Weser, der letzte Vorsitzende der DDP, hat in seinem 1933 erschienenen Buch „Und dennoch aufwärts!“ einige der Gründe dafür genannt, daß so viele ansonsten rechtschaffene Bürger in den schweren Zeiten der wirtschaftlichen Not zu den Nazis abdrifteten: „Umgekehrt sind die Nationalsozialisten Bürger, die Proletarier geworden sind oder zu werden fürchten. Zusammenbrechender Mittelstand, verzweifelndes Rentnertum, nicht standesgemäß pensionierte Offiziere, aussichtslose Akademiker, abgebaute Handlungsgehilfen bilden die Führungsschicht dieser Bewegung. Es ist die Tragödie einer entwurzelten Generation, die sich im Nationalsozialismus entlädt. Keine Möglichkeit des Besitzes, keine Möglichkeit des Heims, keine Freude an der Familie, die häufig zu Kinderlosigkeit verurteilt ist, so entsteht hier eine Gesinnung, die den Kapitalisten über sich genauso haßt, wie den Arbeiter, der bisher unter ihr stand. Man kann Nationalsozialist werden, ohne sich seines Klassenbewusstseins zu entkleiden, obwohl man deklassiert ist. Die braune Jacke deckt alles.“

 

Dem „Ermächtigungsgesetz“ Hitlers vom 23. März 1933 stimmten die Liberalen im Reichstag zu. Theodor Heuss – einer der verbliebenen fünf Abgeordneten der Staatspartei – hat man häufig bis in unsere Tage vorgeworfen, daß er nicht, wie die komplette Fraktion der Sozialdemokraten (die Kommunisten waren von den Sitzungen des Reichstages wegen ihrer angeblichen Schuld am Reichstagsbrand vom 27./28. Februar ausgeschlossen), gemäß seiner inneren Überzeugung dagegen gestimmt habe; sein Verhalten erschien und erscheint vielen Demokraten und Liberalen unverständlich, ja unverzeihlich. Unter diesem Vorwurf, mag er nun zu Recht erhoben werden oder nicht, hat Heuss zeit seines späteren Lebens sehr gelitten. (Hans-Wolfgang Rubin, Heuss’ Parteifreund und langjähriger Schatzmeister der Freien Demokratischen Partei (FDP) der Nachkriegszeit, hat dem Autor dieses Textes 1977 in einem persönlichen Gespräch sehr eindrucksvoll davon berichtet, daß Heuss sich immer wieder selbst beschuldigt habe, seinerzeit nicht seinem Gewissen, sondern der Funktionärsdisziplin gehorcht zu haben.) In der Fraktionssitzung vor der Abstimmung im Reichstag hatte er sich zusammen mit dem Parteivorsitzenden Hermann Dietrich ausdrücklich gegen eine Zustimmung ausgesprochen, konnte sich aber gegen Landahl, Maier und Lemmer, die anderer Meinung waren, nicht durchsetzen. Schon auf der Sitzung des Reichsausschusses seiner Partei, der diese Frage leidenschaftlich diskutierte, hatte er zusammen mit der Stellvertretenden Vorsitzenden Gertrud Bäumer vehement gegen eine Zustimmung argumentiert. Schließlich beugte er sich doch der Fraktionsmehrheit – aus Parteidisziplin und um den Eindruck der Zerrissenheit in der Öffentlichkeit zu vermeiden.

 

Daß sich die Sozialdemokraten, auf deren Liste die fünf Linksliberalen gewählt worden waren, getroffen fühlten, kann nicht verwundern. Heuss hatte lange vor den Märzwahlen die objektive Aussichtslosigkeit einer eigenständigen liberalen Kandidatur für den Reichstag eingestanden. In „Die Machtergreifung“, einem von zwei Ergänzungskapiteln, die er kurz vor seinem Tode seinen „Erinnerungen“ angefügt hat, schreibt er: „Die Sozialdemokraten, damals auch noch die Kommunisten, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei, durften noch mit ihren festen Beständen rechnen, bei den Deutschnationalen war das schon fragwürdig geworden, bei der Volkspartei und der Staatspartei im Grunde praktisch sinnlos, wenn man mit dem Begriff des politischen Tuns den einer wenn auch bescheidenen ‚Macht’ verbindet. Im Grunde war es ein sentimentaler Irrtum, der die Männer und die Frauen, die ‚treu’ geblieben waren, nicht in die parteipolitische Heimatlosigkeit verdammen wollte. Die Technik des damaligen Proporzverfahrens gab die Möglichkeit, durch ein Abkommen mit der Sozialdemokratie die Stimmen zur Wirkung zu bringen – so gelang es bei den Wahlen vom 5. März, fünf Mandate zu sichern.“

 

Reinhold Maier war es schließlich, der die Zustimmung der Linksliberalen zum „Ermächtigungsgesetz“ Hitlers im Reichstag, der wegen des Brandes in der Kroll-Oper zusammentrat, begründete. Am 2. März 1933 hatte Maier in der Stuttgarter Liederhalle, in seinem eigenen Wahlkreis, eine Wahlkampfrede gehalten, die zeigt, worum es der DStP dabei ging; keineswegs etwa darum, Hitler den Weg zur uneingeschränkten Machtausübung zu ebnen: „Ziel des Wahlkampfes: Wir haben gar nichts dagegen, daß Hitler regiert. Ja, wir wollen, daß er regiert, daß er zeigt, was er kann. Wir wollen nicht, daß er nur redet, nur Paraden und Fackelzüge abhält. Er soll heraus mit der Sprache, was er will. Seinen Vier-Jahresplan möchten wir vor der Wahl kennenlernen. Wir verdächtigen diese Geheimnistuerei. Wir wollen, daß Hitler zeigt, ob er und wie lange er regieren kann, aber wir wollen, daß eine Volksvertretung da ist, welche ihn unter Kontrolle hält, daß er sich nach seiner Regierungszeit wieder in der Wahl dem Volk stellen muß, daß er sich nicht jetzt in die Staatsmacht hineinstiehlt, den Staat dann so umkrempelt, daß er nachher der Pflicht enthoben ist, dem Volk in einer späteren freien Wahl Rechenschaft zu geben. – Gerade eine Partei, welche mit so unverhüllten Machtansprüchen auftritt, braucht doppelt und dreifach die Kontrolle durch starke Gegenkräfte. Und zu diesen Gegenkräften gehört auch das kleine Häufchen schwäbischer Demokraten. Wir sagen nicht Ja und Amen. Und wenn es auch ein Kampf mit ungleichen Waffen ist, wir werden uns wehren bis zum Schluß, und wir werden und wollen zusammenhalten wie Pech und Schwefel.“

 

Die ganze Tragödie der liberalen Position kommt in dieser Rede sinnfällig zum Ausdruck. Gerade dem, was die Liberalen vermeiden wollten, daß die Nazis sich nämlich demokratischer und parlamentarischer Kontrolle entzögen, leisteten sie Vorschub durch ihre Kapitulation im Reichstag, als sie dem „Ermächtigungsgesetz“ zustimmten. Wilhelm Högner, damals sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter und nach 1945 erster bayerischer Ministerpräsident, kommentiert in seinem Buch „Flucht vor Hitler“ den Sündenfall der Liberalen: „Wie aber zur Tragödie bei den Griechen nie das Satyrspiel fehlte, so trat jetzt auch der Demokrat Dr. Maier aus Württemberg auf und gab für seine Fraktion von einem halben Dutzend Männlein, die durch Listenverbindung mit der Sozialdemokratie gewählt waren, ebenfalls die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz bekannt. Laut lachten die Nationalsozialisten über diese letzte verächtliche Geste der letzten Vertreter eines aussterbenden freiheitlichen Bürgertums. Die Barrikadenkämpfer von 1848 hatten andere Enkel verdient.“

 

Am Ende stimmten 444 Abgeordnete der NSDAP, der DVP, der DStP, des Zentrums, der Bayerischen Volkspartei und der DNVP für das Gesetz. 94 Abgeordnete der SPD stimmten dagegen. Die Kommunisten waren seit dem 28. Februar aufgrund des Reichstagsbrandes, als dessen Urheber sie von den Nazis bezichtigt wurden, zu den Sitzungen nicht mehr zugelassen. Es gibt einige Dokumente der DStP, die das Verhalten ihrer fünf Abgeordneten zu rechtfertigen versuchen; sie sind allesamt Zeugnisse einer Hilflosigkeit, die den Realitäten in keiner Weise gewachsen, ja, die jene Realitäten nicht einmal richtig einzuschätzen in der Lage war. Die Reichsgeschäftsstelle verschickte ein Flugblatt, in dem es heißt: „Indem die Reichsregierung durch ein Ermächtigungsgesetz alle Vollmachten und Sicherheiten erhalten hat, steigert sich auch ihre Verantwortung dafür, daß überall gesetzliche und ordnungsgemäße Zustände wieder eintreten. – Unter diesen Gesichtspunkten ist das Verhalten unserer fünf Reichstagsabgeordneten zu verstehen. Sie konnten sich nicht damit abfinden, daß die Annahme des Ermächtigungsgesetzes auch ohne ihre Stimme gesichert gewesen wäre, sie haben geglaubt, so handeln zu müssen, als ob von ihren Stimmen die Entscheidung abhinge. Bequeme taktische Erwägungen wären auch dem Ernst der Stunde unwürdig gewesen.“

 

Am deutlichsten aber werden der Realitätsverlust der fünf Abgeordneten und ihr illusionärer Glaube an das Legalitätsprinzip, an die Macht von Verfassung und Recht in der Rede, die Reinhold Maier vor dem Reichstag hielt. „Wir verstehen, daß die gegenwärtige Regierung weitgehende Vollmachten verlangt, um ungestört arbeiten zu können“, heißt es dort. Daß sie damit der Regierung die Vollmacht erteilten, die Liberalen selbst als Störenfriede zu beseitigen und jeglichem Legalitätsprinzip Hohn zu sprechen, verstanden sie nicht. Der Partei gegenüber erläuterten die Abgeordneten ihr Verhalten durch eine schriftliche Erklärung, in der zu lesen ist: „Wenn schließlich die Entscheidung für die Zustimmung fiel, so war ausschlaggebend die Erwägung, daß mit der Annahme des Ermächtigungsgesetzes die Sprengung der Gesetzlichkeit in den zentralen Stellen der Reichsführung vermieden wurde.“ Das Gegenteil war, wie wir heute wissen, der Fall. Theodor Heuss schrieb später in seinen „Erinnerungen“: „Es gab selbst in der Führung der Staatspartei einige hervorragende Männer, die schon 1931 der Meinung waren, man solle Hitler an der Macht beteiligen. Männer, die nach 1933 aus Gründen der Rasse oder der Versippung Deutschland verlassen mussten; er werde sich an den Realitäten verbrauchen. Ich habe dem immer widersprochen; Blechmusik auf der Straße sei wirkungsvoller als Kammermusik. Wie solche von den Nationalsozialisten verstanden wurde, hatten wir ja inzwischen ein paar Mal erfahren können.“ Diese Skepsis freilich war keineswegs bei den Liberalen allgemein verbreitet; vielleicht wollte man die Realitäten einfach nicht wahrhaben, wollte nicht sehen, daß sich die Nazis um Legalität in keiner Weise scherten; vermutlich war die ausgelaugte Partei auch gar nicht mehr in der Lage, sich aufzuraffen und sich dem Weg in die Diktatur entgegen zu stellen. Angesichts des immer stärker sich ausbreitenden Druckes, den die allgemeine Demokratiefeindlichkeit ausübte, wichen sie vom „Pfad der Tugend“ ab und gesellten sich nolens volens zu den Totengräbern der Republik.

 

Ludwig Quidde, liberaler Friedensnobelpreisträger von 1927 und bis 1930 Mitglied der DDP, schrieb dazu im Schweizer Exil: „Die Zentrumspartei trägt durch ihre Zustimmung die Verantwortung für alles, was Hitler auf Grund des Ermächtigungsgesetzes getan hat (…) Dieselbe Verantwortung trifft die Bayerische Volkspartei, die Staatspartei und die anderen Splitterparteien. Ihre Unterwerfung ist noch belastender für sie, da man sie für die Zweidrittelmehrheit nicht brauchte.“ Und er drückt sein Entsetzen über die Haltung vieler Mitläufer und Jasager aus, die den Untaten der Nazis ungerührt, ja, billigend zusahen: „Beschämend ist die Würdelosigkeit, mit der so viele sich der Gewalt beugten …“

 

Die nationalliberale DVP stand an der Seite der nationalistischen Kräfte, also auch der NSDAP. Die Mehrheit ihrer Mitglieder wandte sich schon bald nach dem März 1933 der neuen Macht im Staate zu. Die Wahlkreisorganisationen im Rheinland und in Westfalen etwa traten geschlossen zur NSDAP über. Am 4. Juni 1933 wurde die Partei von ihrem Vorsitzenden Eduard Dingeldey gegen die Zusicherung der Nazis aufgelöst, daß ihre Mitglieder keinerlei berufliche und staatsbürgerliche Zurücksetzung erfahren würden. Ein leeres Versprechen, wie die Zukunft zeigen sollte. Die DVP war freilich schon lange vorher von Nazis unterwandert worden, sowohl was die Orts- und Bezirksgruppen als auch was Koalitions- und Abstimmungsverhalten in regionalen und kommunalen Parlamenten betrifft. Die dezidiert nationale Orientierung der DVP machte viele Mitglieder blind für die Gefahren, denen sie sich und die Partei aussetzten, wenn sie mit den Nazis gemeinsame Sache machten. Das Nationalgefühl der Deutschen – durch den Versailler Vertrag, den man das „Versailler Diktat“ zu nennen pflegte, und durch das häufig als demütigend empfunden Verhalten der Siegermächte in vielen Gruppen des Volkes über Gebühr strapaziert – war neben ökonomischen Motiven einer der wesentlichen Gründe dafür, daß die NSDAP so großen Zulauf hatte. Auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter mit ausgeprägt nationalem Selbstbewusstsein waren dagegen nicht gefeit, wie sich bald zeigte. Wer im Reich blieb, arrangierte sich wohl oder übel mit den neuen Herren oder machte gar gemeinsame Sache mit ihnen. Der Widerstand gegen die Nazis wurde bis zum Krieg im wesentlichen vom Ausland aus organisiert. Im Vaterland selbst erstickten die Nazis ihn im Keim, wo immer sie ihm auf die Spur kamen. Dabei galten ihnen nicht nur die Kommunisten und Sozialdemokraten als besonders suspekt, auch die Liberalen wurden misstrauisch beäugt und in der Regel von einflussreichen Stellen ferngehalten. Theodor Heuss, der als Hochschullehrer Berufsverbot erhielt und ein Leben in der inneren Emigration fristen musste, ist ein beredtes Beispiel dafür. Bis 1938 ließ man ihm die Freiheit, über „unverdächtige“, vor allem kulturpolitische Themen zu publizieren – so entstand unter anderem eine große Biographie über seinen Lehrer Friedrich Naumann. Dann aber war ihm auch dies untersagt.

 

Ludwig Bergsträsser (DDP, seit 1930 SPD) fasst in seiner „Geschichte der politischen Parteien in Deutschland“ die Debatte und die Folgen des „Ermächtigungsgesetzes“ wie folgt zusammen: „Es sollte sich sehr bald zeigen, daß die Hoffnungen oder Zusagen, von denen sich die Mittelparteien beeinflussen ließen, trogen bzw. in keiner Weise eingehalten wurden. Ihre Zustimmung war für die Regierung Hitlers und die nationalsozialistische Regierung notwendig, wenn das Ermächtigungsgesetz die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit im Reichstag erhalten sollte. Auch nach Ausschalten der Kommunisten und trotz der Schwächung der Sozialdemokraten durch zahlreiche Verhaftungen war diese Zweidrittelmehrheit nur zu erreichen, wenn alle anderen Parteien für das Gesetz stimmten. Die Vertreter dieser Parteien waren sich damals nicht darüber klar, daß sie mit dem Ermächtigungsgesetz das eigene Todesurteil unterschrieben. Trotzdem kann man bis zu einem gewissen Grade verstehen, daß man Anfang 1933 die weitere Entwicklung noch nicht übersehen konnte. Schon seit vielen Monaten bestand auch bei Vertretern der demokratischen Parteien die Stimmung, daß radikaler Widerstand unmöglich sei und daß die nationalsozialistische Flut erst einmal alles überschwemmen müsse, ehe eine Wendung möglich sei. Auch entschiedene Demokraten vertraten damals die Ansicht, Hitler und seine Partei sollten zeigen, was sie können oder nicht können, und dann wäre ein Umschlag möglich. Diese Rechnung war falsch, aber es ist verständlich, daß gerade Politiker, die in den Formen des Rechtsstaates aufgewachsen waren, sich nicht auf seine radikale Beseitigung einstellten. Trotz ihrer entschiedenen Haltung in der Reichstagssitzung vom März 1933 glaubten auch Sozialdemokraten, daß ihre Organisation überdauern werde, die großen freien Gewerkschaften waren sogar zu gewissen Konzessionen bereit, bevor sie der ‚Deutschen Arbeitsfront’ einverleibt wurden. Im besonderen hat eigentlich niemand damit gerechnet, daß es möglich sein werde, in der weiteren Entwicklung freie Wahlen radikal auszuschalten.“

 

Auch für die Liberalen, was immer man ihnen vorgegaukelt hatte, folgte die Ernüchterung nach den Ereignissen des ersten Halbjahres 1933 schnell. Die Nazis schufen vollendete Tatsachen. Theodor Heuss wurde von seiner Lehrtätigkeit an der Berliner Hochschule für Politik zwangsweise entbunden. Ernst Jäckh, ihr Rektor und Gründer, selbst ehedem Mitglied der DDP, rettete, was zu retten schien, indem er den entlassenen Hochschullehrern Forschungsaufträge anbot. Allerdings musste auch Jäckh sehr bald emigrieren, nachdem die neuen Herren sein Institut kurzerhand geschlossen hatten. Viele Liberale, die in Deutschland blieben, zogen sich, wie Theodor Heuss, in die innere Emigration zurück. Nur an wenigen Stellen bildeten sich Widerstandsgruppen. Getragen wurden sie stets von Liberalen, die in der Weimarer Republik noch nicht an vorderer Front in den Parteien gestanden hatten. Mit den Widerstandskreisen, die auf den 20. Juli 1944 hinarbeiteten, hatten auch Liberale Kontakt. So war zum Beispiel der ehemalige Reichstagsabgeordnete der DDP und zweimalige Ministerpräsident von Oldenburg, Theodor Tantzen, von Karl-Friedrich Goerdeler als Beauftragter im Wehrkreis Hamburg vorgesehen. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler konnte er sein Leben nur knapp retten.

 

Einige kleinere Gruppen des liberalen Widerstandes, die sich gleichwohl um eine reichsweite Vernetzung bemühten, wurden von den ehemaligen DDP-Mitgliedern Hans Robinsohn und Ernst Strassmann aufgebaut und geleitet. Es war ihr Bestreben, die von den Nazis unterdrückten Informationen über oppositionelle Bewegungen zu verbreiten und nach einem erhofften Scheitern der Nazi-Herrschaft für einen demokratischen Neuanfang gerüstet zu sein. Aus diesem Kreis wurde Thomas Dehler, der spätere Justizminister der Bundesrepublik und Vorsitzende der Freien Demokraten, am bekanntesten. Aus seiner Bamberger Widerstands-Gruppe wurde Hans Wölfel im Herbst 1943 verhaftet, vom Volksgerichtshof verurteilt und hingerichtet. 1964 sagte Dehler im Bayerischen Rundfunk zu seiner Widerstandstätigkeit: „Seit Mitte der dreißiger Jahre gehörte ich zu einem über das ganze Reich verstreuten Kreis freiheitlicher Menschen, einem Kreis des unbedingten Widerstandes. Über den Berliner Richter Dr. Ernst Strassmann stand er in Verbindung mit dem Leipziger Oberbürgermeister Dr. Karl Goerdeler und mit dem Generaloberst Beck in Berlin. Er traf sich in regelmäßigen Zusammenkünften in Hamburg und Berlin; sie galten nicht so sehr dem Umsturz – er konnte nur durch eine Aktion der Soldaten ausgelöst werden -, sondern der Ordnung der deutschen Dinge danach.“

 

1938 emigrierte Hans Robinsohn zunächst nach Dänemark, später weiter nach Schweden. 1939 nahm er an einer Konferenz in London teil, in der die emigrierten Widerstandskämpfer dem Secret Service Informationen zur politischen Lage in Deutschland übermittelten. Da die Engländer jedoch nur zu einer Zusammenarbeit bereit waren, die den Umsturz zum Ziel hatte, kam eine weitere Verständigung nicht zustande. Ernst Strassmann war in Deutschland geblieben und versuchte, die kleinen Gruppen im gesamten Reich weiterhin zu koordinieren. 1942 wurde er verhaftet und blieb bis zum Ende des „Dritten Reiches“ in Nazi-Gewahrsam.

 

An der Organisation des Widerstandes vom Ausland aus waren Liberale von Anfang an beteiligt, wenn ihre Zahl auch nicht groß war. Dem Pariser Volksfrontausschuß, vor allem von Sozialdemokraten und Kommunisten gebildet, traten auch Liberale bei, so zum Beispiel das ehemalige Mitglied der DStP Otto Klepper. Als sich die Volksfront allerdings nicht einigen konnte, alte Gegensätze zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten wieder aufbrachen, bildeten Liberale zusammen mit ehemaligen Sozialisten und Zentrumspolitikern die „Deutsche Freiheitspartei“ (DFP). Sie wurde Ende 1937 zunächst durch Otto Klepper und Carl Spiecker (ehemals Zentrum) in Paris gegründet. Hans-Albert Kluthe, vormals Mitglied von DDP und DStP, baute 1938 einen Londoner Stützpunkt der DFP auf. August Weber, der letzte Fraktionsvorsitzende der DDP im Reichstag, stieß als Emigrant dazu, und auch Spiecker arbeitete in London mit, nachdem die Nazis Frankreich besetzt hatten.

 

Die DFP verstand sich als Auslandsvertretung einer bürgerlichen Opposition im Deutschen Reich. Daher konzentrierte sie ihre Aktivitäten im wesentlichen auf die publizistische Wirkung in das Reich hinein, etwa durch Flugblätter, die zum Teil aus dem Ausland illegal nach Deutschland gebracht wurden („Deutsche Freiheitsbriefe“), durch die von Kluthe redigierte Zeitschrift „Das wahre Deutschland“ oder durch den 1940 eröffneten „Deutschen Freiheitssender“. Als das DFP-Vertriebsnetz im Reich 1938/39 von den Nazis aufgedeckt wurde, war die Wirkung der Partei dadurch entscheidend geschwächt. Zu den in der Folge Verhafteten gehörte auch der von den Nazis entlassene frühere Oberbürgermeister von Nürnberg Hermann Luppe (ehemals DDP), dem aber eine Mitarbeit in der DFP letztlich nicht nachgewiesen werden konnte, so daß er wieder frei kam. Aufgrund der kaum noch möglichen Koordination ihrer Aktivitäten vom Ausland aus und aufgrund personeller Auszehrung musste die DFP ihre Tätigkeit 1941 einstellen.

 

Für die im Reich ausharrenden Liberalen wurde es immer gefährlicher, ihren Widerstand fortzuführen. Thomas Dehler, der sich auch als Verteidiger für jüdische Angeklagte einsetzte, wurde vom nationalsozialistischen Hetzblatt „Der Stürmer“ diffamiert und kriminalisiert, andere bezahlten ihre oppositionelle Haltung gar mit dem Tode. Oft genügte es für eine Anklage, wenn die Opfer sich nicht ausdrücklich von ihrer politischen Tätigkeit in den Parteien der Weimarer Republik distanzierten; außerdem gab es in den liberalen Parteien von Weimar viele Mitglieder jüdischen Glaubens, die der völkischen Rassengesetze wegen umgebracht wurden oder um ihr Leben fürchten mussten.

 

Viele von ihnen sind heute vergessen, weil sich die Forschung ihrer Schicksale viel zu spät annahm. Erst durch die Arbeiten des Historikers Horst Sassin, „Widerstand, Verfolgung und Emigration Liberaler 1933 – 1945“ (1983) und „Liberale im Widerstand“ (1993), wurden nun noch aufzufindende Dokumente ausgewertet und Zeitzeugen interviewt. Vorher gab es nur wenige kleinere Publikationen, die sich mit diesem Thema befassten. Beispielhaft seien einige Opfer des Nationalsozialismus aus dem Kreis der Liberalen genannt, deren Schicksale von Sassin untersucht wurden: Theodor Wolff, Chefredakteur des „Berliner Tageblattes“, emigrierte im September 1933 nach Südfrankreich. 1943 wurde er an die Gestapo ausgeliefert und starb nach KZ-Haft am 23. September im jüdischen Krankenhaus Berlin. Fritz Elsas, von 1931 bis 1933 Bürgermeister von Berlin, wurde am 4. Januar 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen ohne Urteil im „abgekürzten Verfahren“ erschossen. Albrecht Graf von Bernstorff, ehemaliger Diplomat, wurde am 25. April 1945 von den Nazis ermordet. Max Eichholz, früherer Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft, wurde 1943 in Auschwitz umgebracht.

 

Hier könnte man eine Reihe anderer Namen anfügen, die heute nicht mehr oder nur noch bei wenigen im Gedächtnis haften; auch Namen von Liberalen, die in der Emigration starben oder sich dort das Leben nahmen. Die liberale Weltanschauung mit ihren Postulaten von Freiheit und Toleranz war den Nazis und ihren Ideologen, unter ihnen der noch heute wirksame Jurist Carl Schmitt, zutiefst verhaßt. Paradox erscheint, daß die Nazis es für nötig hielten, eine politische Gruppe erbittert zu bekämpfen, die doch schon vor der „Machtergreifung“ kaum noch Bedeutung hatte für die Politik in Deutschland. Aber eine echte (und nicht nur verbal zur Schau gestellte) liberale Überzeugung bildet stets und überall eine Bedrohung für Tyrannei und Diktatur jeglicher Färbung; das wussten die Nazis, und deshalb versuchten sie, den Liberalismus ganz und gar zu beseitigen.

 

Andererseits, das soll nicht verschwiegen werden, hat das liberale Bürgertum der späten Weimarer Jahre es an Grundsatztreue durchaus fehlen lassen. Es gibt Historiker, die meinen, erst dadurch sei die Herrschaft der Nazis möglich geworden; unter ihnen James J. Sheehan, der sein Buch „Der deutsche Liberalismus“ mit folgenden Sätzen beendet: „Nichtsdestoweniger bleibt auch nach Abzug aller erforderlichen Einschränkungen und Vorbehalte die Tatsache bestehen, daß die Klientel der liberalen Parteien sich nach 1930 als eine besonders leichte Beute für die Nazi-Propaganda erwiesen hat. Darin sehe ich das klarste Indiz für den Bankrott des deutschen Liberalismus und die verhängnisvollste Konsequenz aus dem Versagen des Liberalismus vor der Aufgabe, jene Ideen und Institutionen bereitzustellen, die dem deutschen Volk hätten helfen können, die Probleme zu verstehen und zu bewältigen, die sich ihm auf seinem langen Weg zur modernen Industriegesellschaft an die Fersen hefteten.“

 

Vieles kam damals zusammen, was die Lösungskompetenz einer Parteien-Demokratie in großen Teilen der Bevölkerung mindestens problematisch erscheinen ließ und was die verklärte Erinnerung an die „goldenen Zeiten“ nationaler Größe zur scheinbaren Patentlösung für alle Probleme stilisierte. Der Historiker Dieter Langewiesche schreibt: „Der Niedergang des Liberalismus war deshalb ein Symptom für die verfallende Anziehungskraft des pluralistischen Modells einer demokratischen Republik.“ Was die Ohnmacht des verfassungstreuen Linksliberalismus und ihre Gründe betrifft, so äußert sich Werner Stephan dazu wie folgt: „Der Verfall innerhalb eines Zeitraumes von zwölf Jahren kann mit den kleinen und größeren Fehlern in Konstitution und Taktik der Linksliberalen allein nicht erklärt werden. Die wohlmeinenden Zeitkritiker pflegen ergänzend ‚die für den Liberalismus ungünstigen Zeitverhältnisse’, die Entstehung des demokratischen Staates aus der Niederlage und der Revolution, das Fehlverhalten der Siegermächte und die wirtschaftlichen Krisen als Ursachen für die ungünstige Entwicklung der Partei heranzuziehen. Dennoch bleibt der Selbstauflösungsprozeß, den die Führung seit 1928 voller Existenzangst in Gang setzte, ein atemberaubendes Phänomen. Rational ist es kaum zu erfassen. Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen diesem Abstieg der DDP und dem Anwachsen der NSDAP. Sie verhalten sich zueinander wie kommunizierende Röhren. Vom Herbst 1930 an freilich zerflossen rasch alle Gruppen, die ihren Rückhalt in der bürgerlichen Mittelschicht hatten. Die liberalen Parteien, die sich unter Aufgabe ihrer Prinzipien auf Pragmatismus beschränkten und dem Präsidialsystem einfügten, waren dem Untergang geweiht. Dem Ansturm eines entschlossenen Führers, der mit allen propagandistischen Mitteln fanatisierte Massen zum Sturm aufrief, vermochten sie einen nachhaltigen Widerstand nicht mehr entgegenzusetzen.“

 

In der „Hilfe“ vom 15. Juli 1933 schrieb Theodor Heuss den Nachruf auf die erste deutsche Republik: „Die Parteien mussten sich vorkommen wie die Mannschaft einer Festung, bei der alle Außenwerke, Forts und Tore besetzt sind. So entschlossen sie sich, in glanzloser Resignation zu kapitulieren, eingeschüchtert und vom Zweifel an eine sinnvolle Möglichkeit weiterer politischer Gruppenarbeit seelisch ausgehöhlt. Das ist der Tatbestand. Man muß ihn sehen, wie er ist.“