Einige Bemerkungen zur Unverzichtbarkeit des politischen Liberalismus

 

Karl-Heinz Hense

 

 

Mein Thema klingt recht apodiktisch, fast schon impliziert es ein Dogma. Unverzichtbar: eine Provokation? Denn Liberalismus wendet sich doch gegen jede Form letztgültiger Gewißheiten und absoluter Ansprüche. Die Vermutung scheint indessen nicht ganz und gar abwegig, daß der Liberalismus an einem grundlegenden Diktum (das ich mich an dieser Stelle ein Dogma zu nennen scheue) am Ende doch nicht vorbeikommt: nämlich um jeden Preis undogmatisch und deshalb, wie eine Art kritische Oberinstanz, unverzichtbar sein zu wollen für die gedeihliche Entwicklung von Staat und Gesellschaft. Und daß offenbar nicht alle Menschen dieser Ansicht sind (wie sich unschwer anhand von Wahlergebnissen nachweisen läßt), macht ihn allenfalls noch halsstarriger in seinem Wahn. – Ist es denn ein Wahn? Wir werden sehen.

 

Ich will einerseits an einigen Beispielen in der deutschen Geschichte zeigen, daß wir vermutlich ohne den politischen Liberalismus nicht aus­kommen, wenn wir in Freiheit leben wollen; andererseits werde ich, auch im internationalen Kontext, auf grundsätz­liche Entwicklungen hinweisen, denen eine Art liberaler Dynamik innewohnt. Ich will mich mit der Aktualität des Liberalismus befassen, dabei freilich trotz der internationalen Perspektiven von deutschen Phänome­nen ausgehen. Vorher indessen gestatte ich mir einen kurzen Ausflug in die Geschichte der Demokratie, des Rechtsstaates und des Parlamentarismus, die ohne den Liberalismus so nicht hätte stattfinden können.

 

Das Streben nach Freiheit, der Kampf gegen aufgezwungene Le­bensformen, ist in der Geschichte des Liberalismus stets das zentrale Anliegen gewesen, aus dem alles andere folgte. Und die großen historischen Daten des Freiheitskampfes sind stets mit Dokumenten verbunden, in denen die vertragschlie­ßenden Menschen Rechte festzuschreiben versuchten, die das Individuum unabhängig machen sollten von Willkür und Gewalt. Indem man jedem Menschen seine eigene Würde zuerkannte, die unantastbar sein sollte, und ihm das Recht gab, sein Leben in der Gesellschaft nach eigenem Ermessen und in eigener Verantwortung frei zu führen, rückte man den Einzelnen in den Mittelpunkt politischen Handelns. Die Bürgerrechte sollten an die Stelle von Privilegienherrschaft und Obrigkeitsstaat treten, Humanismus und Aufklä­rung begannen ihren weltweiten Siegeszug.

 

Es gibt sicher eine Reihe früherer Dokumente, die in diesem Zusammenhang genannt werden könnten, ich will die Virginia Bill of Rights von 1772 hervorheben, die die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika begründete. Dort heißt es: "Alle Menschen sind von Natur gleichermaßen frei und un­abhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachungen berauben oder zwin­gen können, sich ihrer zu begeben: nämlich das Recht auf Le­ben und Freiheit und die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen."

 

In diesem berühmten Satz ist eigentlich die ganze Substanz liberaler Vorstellung vom friedlichen Zusammenleben der Men­schen enthalten. Die Besonderheit, deren Bedeutung in der Praxis freilich umstritten ist, findet sich darin, daß die Amerikaner auch das Streben nach Glück („the pursuit of happiness“) zum menschlichen Grundrecht erklärten. Wobei es jedem freisteht, sich eine eigene Vorstellung von seinem je individuellen Glück zu machen. Impliziert freilich ist, und das ist das eigentlich Bemerkenswerte, daß der Mensch als ein Wesen betrachtet wird, dessen Lebensziel es ist, hier auf Erden glücklich zu sein. Und damit er dieses höchst individuelle Ziel erreichen kann, hat der Staat ihm geeignete Bedingungen zu schaffen und zu sichern.

 

In Europa erlangte die liberale Staats- und Gesellschaftskonzeption 1789 mit der Deklaration der Menschenrechte durch die Französi­sche Nationalversammlung ihren konstitutionellen Charakter, auf den sich die demokratischen Verfassungen in ihren Grund­rechtsteilen bis heute berufen und von dem die für alle Völ­ker verbindlichen Menschenrechtsdokumente der Vereinten Nationen und des Europarates ausgehen. Mit der allgemeinen Anerkennung dieser fundamentalen Forderungen nach Achtung der Menschenrechte hat die Linie des Liberalismus, die ich den Verfassungslibe­ralismus nennen möchte, ihr wichtigstes Ziel erreicht. Seit­her geht es darum, die Menschen- und Bürgerrechte in der alltäglichen Praxis zu verwirklichen. Wie schwierig dieser Prozeß indessen ist, wird heute besonders anschaulich in den neuen Demokratien des Ostens. Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Theorie und Praxis, sind allzu häufig zwei sehr verschiedene Sachverhalte.

 

Nach der Französischen Revolution und dem Übergreifen repu­blikanischen Gedankengutes auf fast alle anderen europäi­schen Staaten erwuchs dem Verfassungsliberalismus indessen eine starke Konkurrenz - oder auch Ergänzung: je nach Stand­punkt des Interpreten. Ich meine den Nationalismus, der im Gefolge der Freiheitskriege gegen Napoleon im sogenannten Vormärz, vor der bürgerlichen deutschen März-Revolution von 1848, und weit darüber hinaus zur Grundlage der häufig von krie­gerischen Auseinandersetzungen begleiteten Machtbalance-Politik in Europa wurde. Vom Wiener Kongreß 1814/15 bis zur Deutschen Reichsgründung 1871 war die nationale Frage mit den konstitutionellen Forderungen der Liberalen eng ver­knüpft. Auch danach blieb sie eine prägende Kraft liberaler Politik, was etwa daran zu erkennen ist, daß Friedrich Naumann, der Begründer einer sozialpolitisch engagierten Liberalismus-Variante, die 1896 von ihm gegründete Partei "Nationalsozialer Verein" nannte. Es ging ihm darum, das nationale Denken eher konservativer Kreise mit den sozialen Erfordernissen der modernen Industriegesellschaft zu versöhnen.

 

Bis in unsere Zeit bleibt die Zweigleisigkeit in der liberalen Tradition sichtbar und von großer Bedeutung. Den Verfassungsliberalen, gelegentlich auch mit absichtsvoller Unschärfe Linksliberale genannt, standen bis 1918 die Nationalliberalen gegenüber. Während es jenen darum ging, die Verwirklichung der Bürgerrechte mit absoluter Priorität zu versehen, ging es diesen um die Bedeutung und Größe der Nation, der sich alles andere unterzuordnen habe, gelegentlich auch elementare Rechte der Bürger. In der Wei­marer Republik wurden die Nationalliberalen dann zu einer von der Wirtschaft, vor allem der Schwerindustrie, und ihren Interessenverbänden dominierten Partei, weshalb wir seitdem von den Wirtschaftsliberalen als Gegenpart zu den Verfassungsliberalen sprechen. Die Frontstellung der beiden verfeindeten Brüder war am Ende der Weimarer Republik so verbissen, daß man sich gegenseitig nicht mehr für koalitionsfähig hielt.

 

Die nationale Frage blieb freilich ebenfalls auf der Tages­ordnung, und wir erleben bis heute in der Freien Demokratischen Partei noch ihre Nachwirkungen. Allerdings haben die Liberalen eine kla­re Beschlußlage zugunsten einer europäischen Föderation, die eine rückwärtsgewandte Orientierung nicht zuläßt. Indessen brandet die Diskussion darüber, ob man den Nationalstaat nicht doch gegenüber der Europäischen Union in den Vordergrund stellen müsse, immer wieder auf: Ob es zum Beispiel nicht doch besser bei der D-Mark bliebe oder ob die Subsidiarität in der Gemeinschaft gegenüber der Solidarität nicht doch Vorrang haben sollte.

 

Die Spaltung in Wirtschafts- und Verfassungsliberale betraf in der deutschen Geschichte allerdings keineswegs nur den parteipolitischen Bereich. Der libe­rale Soziologe und Politiker Ralf Dahrendorf macht diesen Dualismus zu einem seiner zentralen Themen, indem er ihn auf die gesamte politische Entwicklung in den demokratisch ver­faßten, westlichen Ländern anwendet und darin den "modernen sozialen Konflikt" erkennt. Er spricht vom "Antagonismus von Angeboten und Anrechten, von Wirtschaftswachstum und Bürger­rechten, Ökonomie und Politik", der die gesamte Geschichte der modernen Industriestaaten kennzeichne und zu ihrem grundlegenden, dialektischen Prinzip geworden sei. Eine solche Ver­allgemeinerung des hervorstechendsten Merkmals liberaler Parteienentwicklung il­lustriert zugleich die konstitutive Bedeutung, die die Ideen des Liberalismus für die Gestaltung moderner, demokra­tischer Politik insgesamt hatten und haben.

 

Heute wird die Bipolarität des Liberalismus in Deutschland im allgemeinen durch die Begriffe Rechtsstaatsliberale auf der einen und Wirtschaftsliberale auf der anderen Seite ausgedrückt. Immer wieder wurden die Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Richtungen bis zur schroffen, unversöhnlichen Gegen­sätzlichkeit hochstilisiert, und sie bleiben auch heute, nicht nur in Deutschland, ein Problem liberaler Politik. Im 19. Jahrhun­dert schon führte dieser Konflikt zur Existenz von zwei liberalen Parteien, die sich zeitweise erbittert bekämpften, vor allem in verfassungsrechtlichen Fragen und in der Gegenüberstel­lung von Freihandel und Protektionismus während der Bis­marck-Zeit. Auch nach 1945 blieben die unterschiedlichen Ak­zentsetzungen erhalten und hatten existenzbedrohende Krisen der Freien Demokraten zur Folge. (Was manchen Kritiker der Liberalen immer wieder in dem Glauben bestärkte, der Liberalismus sei so ganz unverzichtbar wohl doch nicht.) Schauen wir über die Grenzen hinweg, so entdecken wir zum Beispiel auch in Dänemark und den Niederlanden jeweils zwei liberale Parteien, die aus dem oben dargestellten Dualismus resultieren.

 

Insgesamt kann man die historische Unfähigkeit der deutschen Libera­len, sich zusammenzuschließen und ihre Konflikte im inner­parteilichen demokratischen Prozeß auszutragen, mit dem Hi­storiker Friedrich Sell durchaus als die "Tragödie des deut­schen Liberalismus" bezeichnen. Sie fand ihren traurigen Hö­hepunkt 1933, am Ende der Weimarer Republik, als beide libe­rale Parteien zusammen nur noch 1,8 % der Stimmen bei der letzten Reichstagswahl erhielten und damit natürlich kein ernstzunehmender politischer Faktor mehr waren. Es gibt durchaus seriöse Argumente von Historikern, beispielsweise von James J. Sheehan, dem Autor einer wichtigen "Geschichte des deutschen Liberalismus", die der Unfähigkeit der libera­len Parteien, den Verfall der Weimarer Republik zu verhin­dern, ein hohes Maß Schuld am Zustandekommen der nationalso­zialistischen Diktatur zurechnen. Im Umkehrschluß bedeutet diese Feststellung freilich auch, daß ohne einen starken, im Bewußtsein der Bevölkerung fest verankerten politischen Li­beralismus die Freiheit in Staat und Gesellschaft keine echte Chance hat.

 

Auch sollte man bei aller berechtigten Kritik an der liberalen Parteien-Geschichte nicht übersehen, daß es der aufgeklärte Liberalismus war, der im 18. und 19. Jahrhundert die Voraussetzungen für die Überwindung der Feudalherrschaft mit ihrer verharzten Klassen- und Privile­gienstruktur sowie für den Triumphzug der Marktwirtschaft schuf. In anderen Nationen, etwa in England und in den USA, ist das gewiß viel deutlicher nachzuweisen als in Deutsch­land. Indes haben die deutschen Liberalen nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihren Fehlern zu lernen versucht. Theodor Heuss, später der erste deutsche Bundespräsident, gründete 1948, zum ersten Mal in der deutschen Geschichte (sieht man einmal von der kurzen Phase zwischen 1861 und 1867 ab, bevor sich die Nationalliberalen von der Deutschen Fortschrittspartei abspalteten), eine einheitliche liberale Partei, die beide Flügel des Liberalismus umfaßte: die Freien Demokraten. Versöhnen freilich konnte sie die verfeindeten Brüder immer nur zeitweise.

 

Zur Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland war die FDP immerhin die einzige Partei, die sich uneingeschränkt zu den beiden wichtigsten Grundpfeilern unserer heuti­gen freiheitlichen Ordnung bekannte: Zur rechtsstaatlichen, parlamentarischen Demokratie und zur Marktwirtschaft. Die anderen Parteien, auch die CDU mit ihrem Ahlener Programm von 1947, tendierten eher zu einem autoritären Staatswesen und zu Ele­menten der Planwirtschaft. Glücklicherweise wurden durch den liberalen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der allerdings der CDU und nicht der FDP angehörte, diese die Gesell­schaft bevormundenden und die Wirtschaft gängelnden Tenden­zen in der die deutsche Nachkriegszeit am stärksten prägen­den Partei schon im Keime erstickt.

 

In der Freien Demokratischen Partei verkörperte einer ihrer ersten Vorsitzenden, Thomas Dehler, am ehesten die Zusammen­führung der beiden widerstreitenden Grundtendenzen liberaler Tradition. Für ihn hatte die freie Marktwirtschaft gleichen Rang wie die parlamentarische Demokratie mit ihren rechts­staatlichen Institutionen. Wie im Parlament der Wettbewerb der Meinungen stattfinde, so finde auf dem Markt der Wettbe­werb der Leistungen statt, freilich in beiden Fällen unter dem Dach von Recht und Ordnung, die ein Höchstmaß an Frei­heit und Gerechtigkeit zu gewährleisten hätten. Heute findet sich eine solche Position etwa bei dem ehemaligen Wirtschaftsminister und Ehrenvorsitzenden der FDP, Otto Graf Lambsdorff. Allerdings wurde und wird sie nicht von allen Li­beralen in der Bundesrepublik geteilt; sie führt aber an­schaulich vor Augen, daß nach dem Zweiten Weltkrieg endlich der ernsthafte Versuch unternommen wurde, die verhängnisvolle Spaltung des Liberalismus zu beenden. Sehr wichtig zu bemer­ken ist, daß in dieser Zeit auch die anderen bedeutenden Parteien liberale Grundforderungen in ihre Programme über­nahmen. Der Rechtsstaat etwa und auch die Marktwirtschaft, wenn auch meist mit dem schmückenden Beiwort sozial verse­hen, sind inzwischen selbstverständliche Bestandteile der Programme und der Politik von CDU/CSU und SPD.

 

Die Bundesrepublik Deutschland ist mit ihrer liberalen Ord­nung gut gefahren. Wir haben heute den freiheitlichsten Staat, den Deutschland jemals erleben durfte, und wir haben trotz Arbeitslosigkeit und erheblicher Probleme mit dem Generationenvertrag ein hohes Wohlstandsniveau in der Bevölkerung, wie es vorher ebenfalls niemals erreicht wurde. Auch die anderen Nationen der Welt, die sich die Grundforderungen liberaler Politik zu eigen gemacht haben, können ähnliche oder gar, wie die USA, noch größere Erfolge vorweisen. Bei oberflächlicher Betrach­tung könnte man fast annehmen, das Ziel der liberalen Urah­nen aus der Zeit der Aufklärung und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das der "klassenlosen Bürgergesellschaft", wie es bei dem Historiker Lothar Gall heißt, sei nunmehr so gut wie erreicht und der Liberalismus werde verzichtbar. Die Probleme der jüngsten Zeit freilich, nicht nur die ökonomischen, haben uns eines anderen belehrt. Politischer Liberalismus ist auch ein Konzept politischer Moral. Es orientiert sich im öffentlichen Handeln am kategorischen Imperativ Immanuel Kants und mahnt die Politiker, ihre Politik in allen Bereichen dem Wohl der Gemeinschaft zu verpflichten. Manches deutet gerade in den letzten Monaten darauf hin, daß allzu oft andere Maßstäbe angelegt wurden: die Interessen der eigenen Partei, das persönliche Wohl oder die Bewahrung der Macht. Deshalb: Ohne den Liberalismus als politische und zugleich moralische Anleitung für die Praxis scheint es eben doch nicht zu gehen.

 

Gleichwohl: Es gibt in Deutschland und anderswo in der Welt viele Wissenschaftler und Intellektuelle, die glauben, weil das Wichtigste aus dem Katalog der liberalen Forderungen nunmehr von den meisten anderen demokratischen Parteien übernommen und in Gesetze gegossen worden sei, habe der Liberalismus seine historische Aufgabe erfüllt und könne ad acta gelegt werden; jedenfalls benötige man keine eigene liberale Partei mehr. Bei genauerer Betrachtung freilich erweist sich eine solch starre Auffassung der sich in ständiger Veränderung befindlichen Entwicklung von Staat und Gesellschaft gegenüber als ganz und gar unangemessen. Denn, wie gesagt, es gibt keine Endzustände, kein letztgültiges Reich der Freiheit, kein „Ende der Geschichte“, schon gar nicht für einen Liberalen. Was Freiheit in der jeweiligen historischen Situation ist und wie sie gesichert werden kann, ist immer wieder neu zu definieren und neu zu diskutieren. Außerdem, wenn dieser saloppe Satz erlaubt ist: Wir haben in der Vergangenheit allzu häufig die Erfahrung machen müssen, daß all jene Politiker und Politikerinnen, die nicht in der Wol­le gefärbte Liberale waren, trotz aller Lippenbekenntnisse allzu schnell bereit waren, liberale Grundsätze über Bord zu werfen, wenn es gerade politisch opportun erschien. - Mit dieser Feststellung, auf die ich später noch einmal zurück­kommen will, verlasse ich den historischen Teil meiner Ausführungen und komme vollends zur aktuellen Politik.

 

Die moderne demokratische Gesellschaft stellt ein Geflecht von Interessengruppen und Einzelinteressen dar, die zueinan­der in vielfältiger Konkurrenz stehen. Es ist die Aufgabe der Politik, den friedlichen Wettbewerb, das friedliche Aus­tragen von Konflikten, so zu organisieren, daß es dabei mög­lichst gerecht und fair zugeht und daß am Ende das Wohl des gesamten Volkes gemehrt wird. Die Pluralität der Gesell­schaft besonders zu fördern, ist ein Grundanliegen, das nicht nur einen effektiven Markt zum Ziel hat, sondern auch dem liberalen Toleranzgebot entspricht. Das ist keineswegs selbstverständlich. Denn von Ideologien getragene Politikvorstellungen – seien sie links oder rechts im parteipolitischen Spektrum angesiedelt - werden immer wieder versuchen, ihre Utopien zu verwirklichen und alle Menschen einheitlichen Vorstellungen zu verpflichten. Schon Immanuel Kant hat uns aber gelehrt, daß dies dem Wohl der Menschen unzuträglich ist. Der Mensch wolle Eintracht, die Natur aber, so Kant, wisse besser, was dem Menschen fromme: sie wolle Zwietracht. Mit Zwietracht aber zu leben, erfordert Toleranz und bedeutet Wettbewerb.

 

Auf dem Gebiet der Wirtschaft, und nicht nur dort, geht der Wettbewerb längst über nationale Grenzen hinaus. Es handelt sich zwar um eine grundsätzliche politische Position, von der aus die Liberalen die Vereinigung Europas zu einem "mo­dernen und demokratischen Bundesstaat" fordern, um die aus der Geschichte gewonnene Erkenntnis nämlich, daß Kriege zwischen den Staaten Europas auf diese Weise am besten verhindert werden können - jedoch ist die wirtschaftliche Vereinigung, der Binnenmarkt und die Währungsunion, dabei einer der wichtigsten Faktoren. In die­sem Rahmen ist es zum Beispiel ein vorrangiges Anlie­gen der Liberalen, die mittel- und osteuropäischen Staaten so schnell wie möglich in den Vereinigungsprozeß einzubezie­hen und durch die Unterstützung ihrer wirtschaftlichen Ent­wicklung auch den Weg zur Demokratie und damit das friedliche Zusammenleben zu befestigen.

 

Ich möchte überhaupt die These aufstellen, daß die Einfüh­rung der Marktwirtschaft, selbst in totalitären Systemen, die oben schon angeführte liberale Dynamik entfalten und früher oder später demokratische Strukturen überall in der Gesellschaft nach sich ziehen wird. Nehmen wir die Situation im kommunistischen China: Es ist allerorten unübersehbar, daß die Marktwirtschaft dort ihren Siegeszug angetreten hat. Zu 95 % sind zum Beispiel inzwischen die Preise freigegeben. Zwar wird es gewiß noch viele Jahre dauern, bis die wirtschaftli­che Freiheit die gesamte politische und gesellschaftliche Freiheit nach sich zieht, aber ich bin sicher, daß dies geschehen wird, wenn sich der wirtschaftliche Prozeß in der jetzigen Form fortsetzt. Und ich bin fest davon überzeugt, daß die bishe­rige wirtschaftliche Entwicklung inzwischen unumkehrbar ist.

 

Für einen Liberalen gehören Demokratie und Marktwirtschaft untrennbar zusammen. Das eine kann ohne das andere auf die Dauer nicht auskommen. Allerdings darf man nicht von einer zwingenden Automatik ausgehen, wenn man annimmt, daß die wirtschaftliche Freiheit die politische und soziale nach sich ziehen wird. Es bedarf natürlich der intensiven politi­schen Anstrengungen aller liberal eingestellten Menschen, um das Ziel der Demokratie wirklich zu erreichen. Aber durch den Fortschritt im wirtschaftlichen Bereich werden sowohl die Motivation der Bevölkerung, auf dem Weg zur politischen Freiheit voranzuschreiten, als auch die Evidenz, daß es de­mokratischer Strukturen bedarf, um die Früchte der Markt­wirtschaft ganz und gar reifen zu lassen, von Tag zu Tag stärker und deutlicher.

 

An dieser Stelle möchte ich allerdings keinen Zweifel daran lassen, daß Liberale von der universellen Geltung der Men­schenrechte zutiefst überzeugt sind. Wären sie es nicht, so wären sie keine Liberale. Mit Kant nämlich träumen sie von der Verwirklichung der Weltbürgergesellschaft, die jedem Menschen gleiche Rechte zubilligt. Und deshalb ist die mancherorts geäußerte Ansicht, die Verwirklichung der Menschenrechte nach westlichem Muster sei in anderen Kulturen vermutlich nicht erreichbar, ganz und gar unakzeptabel. Mir scheint auch, daß damit vor allem die möglichst ungehemmte wirtschaftliche Kooperation mit un­demokratischen Staaten, die hohe Wachstumsraten des Sozial­produktes oder auch ein hohes Rohstoff-Reservoir aufweisen, gerechtfertigt werden soll. Nun bin ich keineswegs der Mei­nung, daß wirtschaftliche Sanktionen gegen Staaten, die die Menschenrechte verletzen, immer ein geeignetes Mittel wären; jedoch darf ein Liberaler bei aller pragmatischen Politik niemals das Ziel aus den Augen verlieren, die Freiheit der Menschen in all ihren Belangen zu realisieren. Noch einmal: Marktwirtschaft und De­mokratie gehören zusammen. Es mag Entwicklungsphasen geben, in denen dieser Zustand nicht verwirklicht ist, jedoch müs­sen diese Phasen überwunden werden, damit die Freiheit der Menschen Realität werden kann. Denn ein Leben in Unfreiheit, ganz gleich in was für einem kulturellen oder politischen Zusammenhang, ist für Liberale nicht hinnehmbar.

 

Und damit komme ich zurück auf meine Bemerkung über die nicht in der Wolle gefärbten Liberalen. Ich behaupte, daß nur eine liberale Partei, die die Freiheit des Einzelnen als ihr vorrangiges Ziel ansieht, die Politik vor allzu willfäh­riger Erfüllung der Ansprüche jeweils dominanter Interes­sengruppen bewahren kann. Wir erleben in Deutschland seit Jahren eine Diskussion um die Liberalisierung der Laden­schlußzeiten. Seit mehr als zwei Jahrzehnten bemühen sich Liberale, diese Forde­rung zugunsten der Freiheit des einzelnen durchzusetzen. Inzwischen gibt es kleine Fortschritte, die gegen das Klienteldenken der anderen Parteien mühselig errungen werden mußten. Ob es die Gewerkschaften waren oder der Einzel­handelsverband, immer wieder schreckten die sogenannten Volksparteien davor zurück, ihre partikularen Interessen zu ver­letzen. Nur die Liberalen sind unabhängig genug, im Sinne des Verbrauchers und damit zum Wohle der ganzen Gesellschaft politisch zu entscheiden. Und diese Unabhängigkeit ist es, die den Liberalismus eben unverzichtbar macht. Sie macht ihn zum Hüter von Pluralität, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und ökonomischer Vernunft. Eine Ursünde ist es, wenn sich Liberale abhängig machen von partikularen Interessen.

 

Die Liberalen wissen, daß die materielle, wirtschaftliche Prosperität eines Volkes eine wichtige Bedingung ist, viel­leicht die wichtigste, das Grundbedürfnis nach Freiheit zu befriedigen. Weil sie daraus keinen Hehl machen, wird ihre Politik häufig vor allem an ihrem wirtschaftlichen Erfolg gemessen. In Deutschland hat liberale Politik bis vor kurzem schmerzlich erleben müssen, was es bedeutet, wenn das Vertrauen in die eigenständige Gestaltungskraft des Liberalismus schwindet. Inzwischen sieht es so aus, als könne Vertrauen zurückgewonnen werden – auch weil die politische und ökonomische Entwicklung liberale Positionen bestätigt hat; im Bereich der Globalisierung wie der Sozialpolitik, in dem der Steuern wie der Bildung. Andere, zum Beispiel die Sozialdemokraten, ja, in jüngster Zeit vor allem die Bündnis-Grünen, übernehmen liberale Konzepte und heften sich die Erfolge liberaler Politik ans Revers, oder sie versuchen es wenigstens. Indessen, wenn ein wenig Ironie gestattet ist, sind und bleiben Sozialisten doch resignierte Liberale, die „den Schwindel am Abgrund der Freiheit“ nicht ausgehalten und sich in die Arme ihrer trostreichen Ideologie geworfen haben. Nun lösen sie sich ein wenig aus dieser Umarmung und wenden sich ängstlich der Freiheit zu. Sobald der Abgrund aber allzu bedrohlich gähnt, werden sie sich abermals in die Obhut ihrer Ideologie begeben und wieder nach Regulierung rufen, wir werden es erleben. Damit diese Regulierung aber nicht allzu schädlich ausfällt, sind Liberale eben unverzichtbar.

 

Es sind die alten Forderungen des Liberalismus, die realisiert werden müssen, um die liberale Dynamik, von der ich eingangs sprach, voll zu entfalten: demokratische, rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Strukturen. Die größt­mögliche Freiheit für die größtmögliche Zahl von Menschen dadurch zu erreichen, ist das Grundanliegen der Liberalen. Ein Anliegen übrigens, das auch staatliche Sozialpolitik begründet, indem sie den Benachteiligten hilft, gleiche Chancen zu erreichen und die Starken davon abhält, nur im eigenen Interesse zu handeln. Und das alles mit realistischem Blick ohne utopische und ideologische Überblendungen. – Ist es jetzt noch ein Wahn zu glauben, der Liberalismus sei unverzichtbar? Auch wenn er dem Dogma, undogmatisch sein zu müssen, am Ende vielleicht wirklich nicht entkommt: Es ist allemal besser auf Freiheit zu bestehen als auf Bevormundung.