John Stuart Mills liberale Theorie und die Gegenwart

 

 

 

„Ich war ebenso sehr wie immer ein Radikaler und Demokrat für Europa, und besonders für England. Ich hielt die Vorherrschaft der aristokratischen Klassen, des Adels und der Reichen, in der englischen Verfassung für ein Übel, das jeden Kampf wert ist, um es los zu werden. (…) Ich dachte, dass die Unterrichtung und Verbesserung der Masse des Volkes im Gegensatz zum Eigeninteresse dieser Klassen stände, solange die höheren und reicheren Klassen die Macht der Regierung besaßen, weil sie dazu beitragen würde, das Volk zu befähigen, das Joch abzuwerfen: aber wenn die Demokratie einen großen und vielleicht den hauptsächlichen Anteil an der Regierungsgewalt erhielte, würde es das Interesse der reichen Klassen werden, die Erziehung des Volkes zu fördern, um die wirklich schädlichen Übel abzuwehren, insbesondere diejenigen, die zu ungerechten Verletzungen des Eigentums führen würden. Aus diesen Gründen trat ich nicht nur so leidenschaftlich wie zuvor für demokratische Institutionen ein, sondern hoffte ernsthaft, dass die Owenistischen, Saint-Simonistischen und alle anderen Anti-Eigentumsdoktrinen sich weit unter den ärmeren Klassen verbreiten würden; nicht dass ich diese Doktrinen für wahr hielt oder wünschte, dass nach ihnen gehandelt werden sollte, sondern um die höheren Klassen zu veranlassen zu sehen, dass sie von den Armen mehr zu fürchten hätten, wenn diese ungebildet, als wenn sie gebildet wären.“ (John Stuart Mill: Autobiographie.)

 

John Stuart Mill’s „Über die Freiheit“ ist zweifellos einer der klassischen Texte des Liberalismus, der seine Attraktivität auch mehr als 150 Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung nicht verloren hat. Der Essay hat seine große Bedeutung eigentlich erst nach dem zweiten Weltkrieg erlangt, weil angesichts der Erfahrungen des Jahrhunderts mit absolutistischen Regimen, Kommunismus und Faschismus, für theoretische Begründungen der individuellen Freiheit eine neue und geschärfte Aufmerksamkeit bestand.

 

Wenn man 2012 von der Bundesrepublik aus auf Mill’s Prinzipien der Freiheit zurückblickt, möchten manche sich angesichts unseres liberalen Verfassungsstaates befriedigt zurücklehnen und sagen: Der Liberalismus hat die Durchsetzung seiner wesentlichen Forderungen historisch erreicht. Meinungsfreiheit und die Freiheit der Entfaltung der Person sind unbestrittene Elemente unserer Gesellschaft. Jedoch treten, im Gegensatz zu jener Meinung, hinsichtlich der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen die individuelle Freiheit sich erst entfalten kann, immer wieder neue Probleme auf, deren Bewältigung liberale Politik erforderlich macht. Auch dazu hat Mill in anderen Zusammenhängen vielfältige Überlegungen formuliert. Sie müssen in eine aktuelle Diskussion einbezogen werden, um die Position Mill’s angemessen würdigen und aus ihr für unsere Zeit lernen zu können.

 

Die englischen Zeitgenossen haben übrigens die Thesen „Über die Freiheit“ nahezu einhellig abgelehnt. Der liberale Abgeordnete, Historiker, Poet und zeitweilige Kriegsminister Macauly brachte diese Missachtung auf die Formel: „Mill ruft Feuer inmitten der Sintflut (Mill is crying ‚Fire’ in Noah’s flood)“. Das heißt nichts anderes, als dass Mill die potentielle Gefährdung individueller Freiheit durch die Gesellschaft betont, bevor die Realisierung der politischen Demokratie sie überhaupt in die Lage versetzt hat, die Verantwortung für ihr Innenleben zu übernehmen. Und der Punkt, der ihm besonders übel genommen wurde, ist die entscheidende Rolle, die er einer geistigen Elite für den historischen Fortschritt zuweist. „Die Gesellschaft ist kein Spielzeug ihrer großen Männer mehr“, hieß es in einer britischen Zeitung. Für einen dieser „großen Männer“ wurde auch Mill gehalten.

 

Zur Reflexion der gesellschaftlichen Funktion und Verantwortung von Leistungseliten und schließlich auch zur Rolle des organisierten Liberalismus kann der Rückblick auf Mill einen beachtlichen Beitrag leisten. Dazu im Folgenden einige Thesen.

 

 

Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft

 

In seiner methodischen Begründung einer Sozialwissenschaft, die in seinem 1844 erschienenen „System der deduktiven und induktiven Logik“ enthalten ist, gebraucht Mill zwei Modelle der Definition des Individuums in der Gesellschaft.

 

Das erste Modell setzt – in der Tradition der Aufklärung und des Naturrechts – eine überzeitlich gegebene Natur des Menschen voraus, die durch Naturgesetze des menschlichen Geistes bestimmt wird. Dazu gehört insbesondere auch die Willensfreiheit.

 

Das zweite, in die Zukunft der modernen Gesellschaftswissenschaften weisende Modell geht von der entscheidenden Bedeutung der gesellschaftlichen Umstände für den besonderen Charakter jedes einzelnen aus. So ist zum einen die individuelle Verschiedenheit erklärbar, zum anderen auch die Veränderbarkeit des Menschen und der Gesellschaft im historischen Prozeß möglich, wenn die Einflußbedingungen geändert werden.

 

Im Zuge der Entwicklung der Struktur jener Sozialwissenschaft, die Mill vorschwebt, tritt die Natur des Menschen als Basis der Gesellschaftsordnung immer weiter hinter die Bedeutung der gesellschaftlichen Umstände zurück, die den Menschen prägen. Mill verbindet mit dieser Konstruktion – die im Detail sehr kompliziert verschachtelt ist – zwei praktische Ziele:

 

-        eine allgemeine Erziehung mit dem Ziel, die aufgeklärten Individuen zur Gestaltung einer harmonischeren Gesellschaft zu befähigen und

-        mit Hilfe der Sozialwissenschaft Mittel zur Beseitigung gesellschaftlicher Krisen und zur Verbesserung der Gesellschaft angeben zu können.

 

Dieses theoretische Konzept geht über früh-liberale Traditionen in England hinaus, die mit der Forderung nach bürgerlichen Freiheiten nur die ökonomische und politische Emanzipation des Wirtschafts- und Besitzbürgertums im Auge hatten. Der Grund liegt natürlich auf der Hand und wird von Mill immer wieder deutlich gemacht: Es ist die Notwendigkeit der evolutionären Integration der Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft, die Mill als Klassengesellschaft begreift. Bekanntlich herrschte bis mindestens zum Zusammenbruch des Chartismus (erste politische Massenbewegung der englischen Arbeiterschaft, benannt nach dem Forderungskatalog der „People’s Charter“ von 1837) eine gehörige Revolutionsfurcht.

 

Das Bewusstsein einer strukturellen Krise mündet bei Mill also in die Erkenntnis der Notwendigkeit, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach Möglichkeit wissenschaftlich fundiert – also nicht nur interessengeleitet – so zu gestalten, dass alle Individuen sich optimal entfalten können. Eine Klassengesellschaft verhindert die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen als soziales Wesen naturgemäß, weil sie die Rolle des einzelnen gesellschaftlich definiert. Daß Mill nicht ernsthaft an das Ende der epochalen Manifestation individueller Entfaltungsfreiheit dachte, die der Kapitalismus entwickelt hatte, sei hier nur am Rande erwähnt.

 

Welche sind nun für Mill die Bedingungen eines solchen gesellschaftlichen Wandels?

 

 

Zum gesellschaftlichen Wandel

 

Am Ende seiner aufwendigen Entwicklung der Struktur einer Sozialwissenschaft im „System der deduktiven und induktiven Logik“ definiert Mill – in deutlicher Anlehnung an Auguste Comte, einen der Väter der modernen Soziologie – den entscheidenden Faktor für den historischen Fortschritt: Es sind die Kenntnisse und Meinungen, die intellektuellen Fähigkeiten in einer Gesellschaft, die Fortschritt möglich machen. Damit sind zum einen die technologischen Fähigkeiten gemeint, die den materiellen Fortschritt bewirken – angesichts der dynamischen industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts ein naheliegender Gedanke; zum anderen das „System von Meinungen“, das die gesellschaftliche Struktur bestimmt, also die Ideologien oder die Wertvorstellungen. Natürlich spielen in dieser Geschichtsauffassung überragende Individuen beziehungsweise „Genies“ für den geistigen Fortschritt eine zentrale Rolle, weil sie den jeweils erreichten Status überschreiten und Impulse für die Weiterentwicklung geben.

 

An diese zeittypischen Überlegungen – nur der Zeitgenosse Karl Marx gelangte zu völlig anderen Vorstellungen – knüpft Mill fünfzehn Jahre später in „Über die Freiheit“ wieder an. Die Begründung der individuellen, unantastbaren Freiheitssphäre läuft im wesentlichen auf die These hinaus, dass nur auf diese Weise die Entfaltungsbedingungen für jene Genies gesichert werden können, die für die Verbesserung der Welt unerlässlich sind. Ein Zitat: „… es gibt im Verhältnis zur ganzen Menschheit nur weinige Personen, deren Experimente, wenn von anderen aufgenommen, wahrscheinlich zu einer Verbesserung der gegenwärtigen Praxis führen würden. Aber diese wenigen sind das Salz der Erde … Nicht nur sind sie es, welche gute Dinge brachten, die vorher nicht existierten, sie sind es auch, die das Leben in den bereits bestehenden lebendig erhalten … Genies sind allerdings eine kleine Minderheit und werden es wahrscheinlich bleiben, aber um sie zu empfangen, muß man notwendigerweise den Boden, in dem sie wachsen, vorbereiten. Das Genie kann nur frei atmen in einer Atmosphäre von Freiheit.“

 

Robert Owen mit seinen humanitären, früh-sozialistischen Experimenten mit Produktionsgenossenschaften gehörte für Mill beispielsweise zum „Salz der Erde“, wenn er diesen Versuchen auch nur wenig Chancen gab, sich dauerhaft durchzusetzen.

 

Zweifellos formuliert Mill hier eine demokratische Elitetheorie. Demokratisch, weil die Bedingungen für das Entstehen von Eliten nicht über die Privilegierung weniger erreicht werden sollen, sondern weil die gleichen Freiheits- und Entfaltungsbedingungen für alle gelten müssen. Natürlich bezieht sich dieser Aspekt auf die gesellschaftlichen Wert- und Ordnungsvorstellungen und weniger auf technologische Weiterentwicklungen; sozusagen auf geistig-moralische Aspekte und nicht auf die wirtschaftliche Behauptung auf dem Weltmarkt. In dieser Hinsicht steckt eine beachtliche Aktualität in diesen klassischen Überlegungen.

 

Denn das zentrale Medium, aus dem Elite und Gesellschaft ihre Impulse beziehen, ist die vollständige Gedanken- und Diskussionsfreiheit. Die engagierten Ausführungen dazu sind sicherlich das klassische Kernstück von „Über die Freiheit“: Es gibt keine absoluten Wahrheiten. Jede begründbare Position muß die Chance auf Gehör haben. Übersetzt in die Politik heißt das bei Mill, dass „eine Partei der Ordnung oder Stabilität und eine Partei des Fortschritts oder der Reform“ notwendige Positionen darstellen, die ihre unverzichtbare Bedeutung jeweils aus den Mängeln der anderen beziehen. Die gesellschaftliche „Wahrheit“, so Mill, liegt irgendwo in der Mitte. Ihr ist nur als Versöhnung der Gegensätze nahe zu kommen. Der konsensfähige Kompromiß ist das Lebenselixier des gesellschaftlichen Wandels.

 

Mit der notwendigen Distanz betrachtet, ist die FDP so gesehen im Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland geradezu ein Prototyp des Liberalismus, weil sie zwischen konservativen und sozialdemokratischen Ordnungsvorstellungen jeweils konsensfähige Lösungen zu vermitteln versucht, die eine Weiterentwicklung der Gesellschaft befördern. Dies natürlich nicht nur als wechselnder Koalitionspartner, sondern gerade auch aufgrund der liberalen Programmatik, die Reformnotwendigkeit und Stabilitätserfordernisse von vornherein zu vereinbaren sucht. Daß dabei die Sicherung der individuellen Freiheitssphäre eine Maxime des Liberalismus ist, steht freilich außer Zweifel. Mill hat allerdings für dieses in westlichen Demokratien heutzutage wohl unbestrittene Modell gesellschaftlichen Wandels – wenn man vom Reizwort Elite einmal absieht – Zusatzbedingungen eingeführt, die eine gründliche Aufmerksamkeit lohnen. Diese Rahmenbedingungen werden durch die utilitaristische Ethik, die Forderungen an die politische Repräsentation und die Erfordernisse der Ökonomie gesetzt. Dazu im Folgenden drei Thesen.

 

 

Zum Begriff des Allgemeinwohls

 

Individuelle Freiheit findet in „Über die Freiheit“ ihre Grenzen da, wo die Entfaltungsfreiheit anderer gehindert wird. Eine auf dem Prinzip des maximalen Schutzes der Egoismen aufbauende Gesellschaft mündet faktisch in eine Klassengesellschaft, die Mill überwunden sehen will. Das Mittel dazu ist eine Sozialethik, welche die Einzelinteressen miteinander in der Orientierung am Gemeinwohl aussöhnen kann. In seiner Formulierung des Utilitarismus kritisiert Mill ausdrücklich seinen großen Vorgänger Jeremy Bentham, der in seiner Theorie „des größten Glücks der größten Zahl“ nur eine Theorie des materiellen Egoismus entwickelt habe.

 

Individuelles Handeln ist für Mill nur dann moralisch begründbar, wenn es sich am „Glück“ oder „Nutzen“ (utility) aller, also am Allgemeinwohl orientiert. Natürlich sind damit konkrete und individuelle Ziele, hinter denen diese Ausrichtung nicht unmittelbar einsichtig ist, nicht ausgeschlossen, solange sie diesem abstrakten Prinzip nicht widersprechen. Dies ist auch gewissermaßen der moralisch legitimierte Normalfall. Aber Erziehung und öffentliche Meinung müssen die natürlichen sozialen Anlagen des Menschen in Richtung auf dieses Bewusstsein stärken. Die gesellschaftliche Elite allerdings, also die Führungsebenen aus Politik und Wirtschaft, hat ihre moralische Legitimation nur dann, wenn sie diesem Prinzip der Realisierung des allgemeinen Wohls, das heißt auch unter der Berücksichtigung der berechtigten Interessen aller, tatsächlich folgt.

 

Nun ist dies natürlich nur eine sehr abstrakte Bestimmung. Mill ergänzt im Laufe seiner Argumentation den Begriff des „allgemeinen Nutzens“ durch die Kategorie der „Gerechtigkeit“. Beide Leitbegriffe werden nahezu synonym. Wie die Diskussionen der letzten Jahre zeigen, wird die konkrete Definition von Politik dadurch nicht unbedingt leichter. Aber es bleibt festzuhalten, dass im Kontext der Überlegungen Mills die Durchsetzung nur partikularer Interessen moralisch nicht legitimiert ist. Die Orientierung an den übergeordneten Interessen der Gesellschaft insgesamt ist ein zentrales Postulat. Im Sinne einer moralischen Verpflichtung, gerade auch unter den Bedingungen des modernen Parteienstaates, kann dies aber nur heißen, das eigene politische Handeln nicht nur entsprechend zu deklarieren, sondern jeweils tatsächlich die größtmöglichen Anstrengungen zu unternehmen, die gleichberechtigten Interessen aller sorgfältig abzuwägen.

 

 

Zur Repräsentationstheorie

 

Darüber hinaus muß für Mill die Organisation der Politik durch Repräsentation diesen Prinzipien Rechnung tragen. Die Orientierung an einer allgemeinen gesellschaftlichen Vernunft muß gerade gegen die vielen Einzelinteressen garantiert werden. Ein Zitat: „Eine Repräsentativverfassung stellt ein Mittel dar, dem in einem Gemeinwesen erreichten allgemeinen Maß an Einsicht und redlicher Gesinnung sowie der individuellen Vernunft und sittlichen Reife seiner mündigsten Bürger mehr Gewicht und direkteren Einfluß auf die Regierung zu sichern, als ihnen in jedem anderen politischen System zukäme …“

 

Seine entsprechenden Wahlrechtsvorstellungen (zum Beispiel Pluralstimmrecht: Gebildete, Unternehmer haben sechs Wahlstimmen, Arbeiter eine) haben nur noch historischen Erinnerungswert und wurden bereits seinerzeit nicht weiter ernst genommen. Ebenso ist seine Hoffnung, auf diese Weise einer moralisch und sachlich kompetenten Elite im Parlament eine Scharnierfunktion zwischen den Fronten der Interessen zu sichern, genauso obsolet geworden wie sein Appell, jeder Wähler müsse sich so entscheiden, als sei er der einzige, und also das Allgemeinwohl im Auge behalten. Einer Elite als eigener Partei hat er selbst übrigens keinerlei Chancen eingeräumt. Allerdings ist der dahinterstehende Appell, dass die politischen Strukturen jederzeit einen am allgemeinen Nutzen orientierten Ausgleich der Interessen ermöglichen müssen, von grundsätzlicher Bedeutung. Die Institutionen der bundesdeutschen Verfassung (Gewaltenteilung, Föderalismus etc.) sowie die Konsensfähigkeit der Parteien sind sicher Zwänge und Chancen in diese Richtung. Daß die Parteien darüber hinaus jede für sich und nach ihrer jeweiligen Werthaltung ein Maximum an moralischer und sachlicher Kompetenz anstreben, versteht sich von selbst. Hinter den aktuellen Stichworten Parteienverdrossenheit, neue Protestbewegungen („Stuttgart 21“, „Occupy“ u.s.w.) verbirgt sich ohne Zweifel ein gesellschaftliches und parteipolitisches Defizit jener positiven, Maßstäbe setzenden und Impulse gebenden Funktion, die Mill der geistigen Elite – auch im Parlament – zugeschrieben hat.

 

Was im übrigen nicht bedeuten soll, dass die Parteien und ihre Parlaments- oder gar Regierungsmitglieder die geistig moralischen Vordenker der Nation spielen sollten. Ganz im Gegenteil: Sie scheinen den von ihnen selbst für ihr eigenes Verhalten gesetzten Maßstäben nicht mehr gerecht zu werden und verlieren ihre Glaubwürdigkeit, was letztendlich zu einem Defizit des gesamten Parteiensystems führt, das eine allgemeine Politikverdrossenheit auslöst. Die Wählerstruktur der Parteien an den linken und rechten Rändern des Parteienspektrums liefert dafür ein beredtes Beispiel.

 

Auf diese komplexen Phänomene unserer Zeit bezogen liefert Mill’s Repräsentationstheorie durchaus einen beachtlichen Merkposten.

 

 

Die Erfordernisse der Ökonomie

 

Mill hat in seinen 1848 erstmals erschienenen „Prinzipien der Politischen Ökonomie“ in der Tradition von Adam Smith, David Ricardo und anderen großen Vorläufern die Gesetze der Ökonomie dargestellt, die für ihn den Status von Naturgesetzen haben. Dies gilt nicht nur für die Gesetze der Produktion, sondern auch für die der Verteilung der gesellschaftlichen Produktion in Gewinn und Lohn, sofern die Basis das Privateigentum ist. Naturgesetze kann man auch in bester Absicht nicht außer Kraft setzen. Dies war die erste Botschaft an die im Elend lebende Arbeiterschaft: Mehr als der jeweilige Lohnfonds kann unter ihr nicht verteilt werden, und der einzelne kann nur einen höheren Lohn erhalten, wenn die Zahl der Bewerber kleiner wird. Also kann sie ihre Lage nur entscheidend verbessern, wenn sie die Erkenntnisse der malthusianischen Bevölkerungstheorie aufnimmt und ihr generatives Verhalten den Gegebenheiten anpasst.

 

Mill ist allerdings bei diesem klassisch liberalen Marktmodell der Prädominanz des Kapitals nicht stehen geblieben, sondern hat gegen Ende seines Lebens unter dem Eindruck der sich entwickelnden Gewerkschaftsbewegung zugestanden, dass die Höhe von Löhnen und Gewinnen das Ergebnis gesellschaftlichen Handelns ist. Diese wissenschaftliche Anerkennung der Tariffreiheit ist zweifellos historisch betrachtet ein wichtiger Schritt, der die Berücksichtigung sozialer Bedürfnisse in der Ökonomie denkbar macht. Die Tariffreiheit befreit die Tarifpartner – modern gesprochen – aber nicht von den gesetzmäßigen ökonomischen Konsequenzen ihres Handelns. Die ökonomischen Gesetze bleiben über die Steuerungsleistung des Marktes in Kraft und führen zum Ausgleich von Disparitäten. Hinter diesem Ansatz einer sozialen ökonomischen Beweglichkeit steht immer die Einsicht, dass die Eigendynamik der Ökonomie das Paradies auf Erden sofort und für alle nicht zulässt.

 

Neben diesen objektiven Grenzen gilt für den Staat grundsätzlich das Prinzip des „Laissez faire“. Aber zugleich entwickelt Mill in seinen „Prinzipien der Politischen Ökonomie“ ebenso wie dann in „Über die Freiheit“ Ansätze einer Wohlfahrtsstaatstheorie. Nach Maßgabe praktischer Vernünftigkeit kann der Staat Rahmenbedingungen setzen, die im Interesse des Allgemeinwohls erforderlich sind: Von der staatlichen Kontrolle öffentlicher Versorgungsbetriebe, der Durchsetzung einer Sozialpflichtigkeit der natürlichen Ressourcen, insbesondere des Bodeneigentums, bis hin zu einer gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit, einer hohen Erbschaftsbesteuerung und dem Nachweis ökonomischer Leistungsfähigkeit vor Eheschließungen. Immer dann, wenn Strukturen der Realisierung von Individualinteressen entgegenstehen, an deren Verwirklichung die Gesellschaft insgesamt ein begründetes Interesse hat, ist der Staat zu Intervention berechtigt und kann die Freiheitssphäre definieren. Beide Momente müssen zusammen gesehen werden: die selbstregulative Vernünftigkeit der Ökonomie als Grenze sinnvoller Eingriffe und die Notwendigkeit, individuelle Freiheit und gesellschaftliche Erfordernisse durch ergänzende staatliche Steuerungsleistungen miteinander zu versöhnen.

 

Es bedarf keiner weiteren Ausführungen darüber, dass wir uns derzeit in einem schwierigen Prozeß der Balance zwischen diesen Positionen befinden. Die konkrete Aufgabe der Politikformulierung nimmt uns kein Klassiker ab. Aber die Besinnung auf vergangene Anstrengungen des Liberalismus kann die Aufmerksamkeit für die grundsätzlichen Probleme des politischen Tagesgeschäftes schärfen.

 

 

Zusammenfassung

 

Mills Thesen „Über die Freiheit“ des Individuums in der Gesellschaft markieren eine Übergangsphase in der Geschichte des Liberalismus:

 

-        Ihr Zentrum ist noch auf die Begründung individueller Freiheit gegen die Gesellschaft und den noch nicht demokratisch legitimierten Staat ausgerichtet. Dabei enthalten sie Prinzipien wie die Presse- und Versammlungsfreiheit und die Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit, die bleibende Essentials auch in der Demokratie sind.

 

-        Ihr theoretisches Umfeld öffnet den Blick auf die demokratisch legitimierte Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die eine Realisierung der Freiheit allererst ermöglicht.

 

-        Die individuelle Freiheit hat ihre moralischen Grenzen im allgemeinen Interesse der Gesellschaft und ihre objektiven Grenzen in der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft.

 

-        Die Definition des Allgemeinwohls ist moralisch verpflichtet, die berechtigten Interessen aller zu berücksichtigen, und darf keine Einzelinteressen zu ihrer Maxime machen.

 

 

Schlussbemerkung

 

John Stuart Mill nimmt nicht nur den liberalen Grundwert der individuellen Freiheit als Orientierungspunkt seiner Gesellschaftstheorie, er legt ihr vielmehr auch den der Gleichheit zugrunde. Nur wenn allen Menschen gleiche Rechte und gleiche Chancen zugebilligt werden (allerdings in einem abgestuften Prozeß), lässt sich die individuelle Freiheit in einer freien Gesellschaft verwirklichen.

 

Der Geschichte des politischen Liberalismus vor allem in Deutschland ist vielfach vorgeworfen worden, sie bilde deshalb die „Tragödie des … Liberalismus“ (Friedrich C. Sell) ab, weil sie über die Beschäftigung mit dem (individuellen) Freiheitsbegriff die Bedeutung des Gleichheitsgrundsatzes, also der Gerechtigkeit, vernachlässigt habe. Diesem Vorwurf mag zuzustimmen sein, wenn man die Bemühungen von Hermann Schulze-Delitzsch, Eugen Richter, Lujo Brentano und Friedrich Naumann, die letztlich alle scheiterten, außer acht lässt. Allerdings ist gleichermaßen auf moderne Entwicklungen des deutschen Liberalismus hinzuweisen, die ihre Formulierung vor allem in der 1971 erschienenen Streitschrift „Noch eine Chance für die Liberalen“ von Karl-Hermann Flach gefunden haben. Das Problem der missachteten Gleichheit sieht Flach sehr genau: „Liberalismus heißt Einsatz für größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen und Wahrung der menschlichen Würde in jeder gegebenen oder sich verändernden gesellschaftlichen Situation. Der Liberalismus ist nicht auf ein Gesellschaftsmodell festgelegt. Liberalismus bedeutet demgemäß nicht Freiheit und Würde einer Schicht, sondern persönliche Freiheit und Menschenwürde der größtmöglichen Zahl. Freiheit und Gleichheit sind nicht nur Gegensätze, sondern bedingen einander. Die Freiheit des einzelnen findet ihre Grenze in der Freiheit des anderen einzelnen, des Nächsten.“

 

Für die liberale Praxis in der Bundesrepublik ist diese fundamentale Erkenntnis wohl immer wieder neu in Politik umzusetzen. Dazu gilt der Satz von Werner Holzer, den er am 7. Oktober 1978 anläßlich des fünften Todestages von Flach in der Frankfurter Rundschau formulierte: „Wenn die F.D.P. alle ihre Energie darauf verwendet, wirklich das zu sein, als was Karl-Hermann Flach sie … beschrieben hat, dann muß sie sich um ihre Zukunft weniger Sorgen machen als heute.“

 

Zu dem, was Flach beschrieben hat, gehört die richtige Balance der Grundwerte, die durch geeignete staatliche Maßnahmen ermöglicht und abgesichert wird. Nur dann lässt sich eine Situation vermeiden, wie sie John Stuart Mill mit den drei letzten Sätzen von „Über die Freiheit“ beschreibt: „Der Wert eines Staates ist auf lange Sicht der Wert der Individuen, die ihn bilden. Und ein Staat, der die Interessen der geistigen Entwicklung dieser Individuen vernachlässigt, zugunsten einer etwas besser funktionierenden Verwaltung oder jenes Anscheins davon, den die Praxis im jeweiligen Detail liefert, ein Staat, der seine Menschen verkümmern lässt, um an ihnen – selbst für nützliche Zwecke – gefügige Werkzeuge zu besitzen, wird merken, dass mit kleinen Menschen wahrlich keine großen Dinge vollbracht werden können und dass die Vervollkommnung der Maschinerie, der er alles geopfert hat, schließlich doch nichts nutzt. Denn er hat es vorgezogen, die lebendige Kraft zu verbannen, damit die Maschine glatter laufe.“

 

Den deutschen Bildungspolitikern zum Beispiel sollten diese Sätze zu denken geben. Seit Jahrzehnten vernachlässigt unser Bildungssystem die individuell ausgerichtete „geistige Entwicklung“ von Kindern und Jugendlichen. Zuletzt hat dies der „Chancenspiegel“ der Bertelsmann-Stiftung aus dem März 2012 in eklatanter Weise nachgewiesen. Es ist höchste Zeit für eine gründliche Reform; John Stuart Mills Gedanken können dafür Orientierung liefern.