Kultur und Freiheit

 

Karl-Heinz Hense

 

Liberale können auf das „Postulat der Freiheit“ (Immanuel Kant) nicht verzichten, was immer der Freiheit auch nachgesagt und welche Möglichkeiten zum Missbrauch sie auch immer zu bieten scheint. Wilhelm von Humboldt hat dazu die schönen Sätze formuliert: „Zwang hindert vielleicht manche Vergehung, raubt aber selbst den gesetzmäßigen Handlungen von ihrer Schönheit. Freiheit veranlasst vielleicht manche Vergehung, gibt aber selbst dem Laster eine minder unedle Gestalt.“ Dabei ist nicht einmal sicher, dass es Freiheit wirklich gibt. Schon die skeptischen Philosophen im alten Griechenland haben ihre Nachweisbarkeit grundsätzlich bezweifelt, und Immanuel Kant reiht die Frage nach der Existenz eines freien Willens unter die „Antinomien“ ein, weil es ebensoviele Pro- wie Contra-Argumente dazu gebe, die Frage also letztlich nicht zu entscheiden sei. Die beiden gegensätzlichen Auffassungen formuliert er wie folgt: These: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig.“ – Antithese: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“

 

Heute findet die Antithese in der Neurobiologie wissenschaftliche Unterstützung. Der Bielefelder Hirnforscher Hans Markowitsch stellt als Ergebnis seiner Untersuchungen fest: „Unser Handeln in einer spezifischen Situation ist durch die Verschaltungen in unserem Gehirn determiniert.“ Der Frankfurter Neuropsychologe Wolf Singer und andere Wissenschaftler folgern daraus, dass es keinen freien menschlichen Willen gebe, die Funktionen des Gehirns vielmehr auf kausale Naturgesetze festgelegt seien. Wegen der Komplexität der „Verschaltungen“ und der Macht der Gewohnheit, die häufig im Unterbewußten entsteht, kommen uns solche Gesetze freilich nicht zu Bewusstsein. Der Philosoph und Biologe Gerhard Roth spricht gar davon, daß unser Gehirn uns „perfiderweise“ die Illusion eines freien Willens und daraus resultierend einer moralischen Verantwortung vorspiegele. Für unser alltägliches Leben ist eine Determination aufgrund biologischer, kausalgesetzlich festgelegter Prozesse deshalb nicht evident. In den meisten willentlichen Entscheidungssituationen ist kaum vorstellbar, dass wir in Wirklichkeit nicht frei wählen. Im allgemeinen sind wir der Überzeugung: wenn wir dem Menschen Verantwortung für sein Handeln zuerkennen wollen, so müssen wir ihm auch einen freien Willen attestieren. Darauf beruht unser gesamtes Rechtssystem. Für Liberale ist dies der Kern ihres Menschenbildes und zur Realisierung eines humanen, der Würde des Menschen angemessenen Zusammenlebens unverzichtbar. Die Frage stellt sich allerdings immer dringender, vor allem angesichts der Erkenntnisse in der Hirnforschung, wie dieser freie Wille zu definieren sei, ja ob sich die duale Konstruktion von physischer Welt, der unser Körper angehört, und intelligibler Welt, in der unsere Freiheit und unsere Willensentscheidungen angesiedelt sind, überhaupt noch halten läßt. Aus neurobiologischer Sicht ist die Frage längst entschieden: Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren. Allenfalls kann „kompatibilistisch“ von einer „Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus“ gesprochen werden, die zu unterschiedlichen „Freiheitsgraden“ führt; allerdings wird dabei das naturgesetzliche Prinzip der Kausalität allen Geschehens und Handelns nicht aufgegeben. Auch in moralischer und rechtlicher Hinsicht gibt es bemerkenswerte Einwände gegen die Annahme unbedingter Willensfreiheit: „Vielleicht noch gravierender ist, daß eine unbedingte Willensfreiheit – gäbe es sie – darauf hinauslaufen würde, daß unsere Handlungen zufällige Ereignisse wären, die in keinem Zusammenhang zu uns als handelnden Personen stünden.“ So der Psychologe Thomas Goschke. Dies hätte erhebliche Konsequenzen: Es wäre schwer zu entscheiden, wie man für rein zufälliges Verhalten moralisch verantwortlich gemacht oder rechtlich zur Verantwortung gezogen werden oder in welchem Sinn man sich überhaupt als Urheber dieses Verhaltens betrachten könnte.

 

Ein moderner Philosoph, Peter Bieri, hat der Verteidigung des liberalen Standpunktes ein ganzes Buch gewidmet mit dem Titel: „Das Handwerk der Freiheit – Über die Entdeckung des eigenen Willens“; freilich kommt auch er am Ende zu dem Ergebnis: „Vielleicht ist Willensfreiheit (…) in ihrer vollkommenen Ausprägung eher ein Ideal als eine Wirklichkeit.“ Wolf Singer gewinnt der Abkehr von einer „libertarischen“ Konzeption unbedingter Willensfreiheit sogar eine positive Wirkung ab: „Das Leben und das bißchen Glück, das wir haben, würde uns als das Kostbarste erscheinen, das wir besitzen, und wir würden es höher achten als bisher. Wir kämen (…) zu einer demütigeren, toleranteren Haltung – einer weniger rechthaberischen Attitüde, weil wir vieles relativieren müssten, auch unser eigenes apodiktisches Tun.“

 

Ob das klassische liberale Menschenbild mit seiner Vorstellung von Freiheit und Verantwortung in Zukunft beibehalten werden kann oder ob eine andere Grundlage menschlicher Entscheidungen als die des nicht kausal gebundenen, freien Willens akzeptiert werden muß, ist derzeit vermutlich noch offen. Sollte sich die Position von Wolf Singer und der Neurowissenschaft durchsetzen, so wird zu erörtern sein, was eine liberale Moral und Ethik daraus ableiten müssen; denn die kausalen Gesetzmäßigkeiten des menschlicher Willens zu kennen, birgt möglicherweise auch die Gefahr, seine Entscheidungen fremdbestimmen zu können. Durch geschickte Formen der Propaganda und anderer psychologischer Praktiken der Beeinflussung war dies auch bisher schon möglich, nun aber käme vielleicht eine neurobiologisch steuerbare Manipulation hinzu, die einem Szenario wie in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ zusätzliche Plausibilität verliehe. - Die Philosophin Yvonne Thorhauer, obwohl Verfechterin der neurobiologischen Erkenntnisse, kommt gleichwohl zu dem Ergebnis: „Letztlich erweist es sich als eine Frage des Glaubens, ob sich, wie Hirnforscher glauben, ‚Geist und Bewusstsein … in das Naturgeschehen’ einfügen und es nicht ‚übersteigen’ … oder ob man Schopenhauer folgen will: ‚Allein, wie große Fortschritte auch die Physik’, in unserem Fall die Hirnforschung, ‚machen möge; so wird damit noch nicht der kleinste Schritt zur Metaphysik geschehen seyn (…) Vielmehr werden’, was auch die heutige Debatte über die Willensfreiheit beweist, ‚die größten Fortschritte der Physik das Bedürfnis einer Metaphysik immer fühlbarer machen’.“ Kritisch anzumerken ist freilich, daß mit diesem Hinweis auf Schopenhauer die Argumente der Neurobiologen nicht zu entkräften sind, denn auch sie gehen in der Tradition der kantischen Transzendentalphilosophie davon aus, daß es eine Wirklichkeit gibt (Kant spricht von „Erscheinungen“), die unser Gehirn konstruieren kann, und eine Realität (das kantische „Ding an sich“), von der wir nichts wissen, über die allenfalls spekulative, mystische oder religiöse Mutmaßungen angestellt werden können. Mag sein, daß das Bedürfnis der Menschen nach solchen Mutmaßungen durch die zunehmende Komplexität der Repräsentationsaktivitäten unseres Gehirns erzeugt wird, die unser Alltagsbewußtsein überfordert.  

 

Analog zur Frage nach der Alternative von Willensfreiheit oder kausaler Determination ist die nach der Unterscheidung von natürlicher Intelligenz des Menschen und künstlicher Intelligenz zum Beispiel von Computern häufig gestellt worden. Wenn die Hypothese, das menschliche Gehirn funktioniere nach wissenschaftlich darstellbaren, kausalen Gesetzmäßigkeiten und sei nichts weiter als ein hoch entwickeltes informationsverarbeitendes System, richtig ist, so gibt es zur künstlichen Intelligenz generell keinen Unterschied, es ginge dann nur noch um die Frage von Kapazitäten und von Komplexität. Zu beiden Fällen – Willensfreiheit versus Determinismus und natürliche Intelligenz versus künstliche Intelligenz - sind indessen die Einwände des amerikanischen Informatik-Fachmannes und Sozialkritikers Theodore Roszak von nicht unbeträchtlicher Relevanz: Der Geist denkt in Ideen, so Roszak, nicht in Informationen. Informationen können zwar eine Idee veranschaulichen oder ausschmücken, bringen aber von sich aus keine Ideen hervor. Eine menschliche Kultur entsteht und überlebt nicht mit Hilfe von Informationen, die sie sammelt und verarbeitet, sondern kraft der Macht, der Beweglichkeit und Fruchtbarkeit ihrer Ideen; kraft der Fähigkeit, dem Bedeutungslosen Bedeutung zu geben. Große Ideen, etwa die der Freiheit oder der Gerechtigkeit, kommen völlig ohne Informationen aus. Noch so viele Informationen bringen keine noch so dürftige Idee hervor. – Auch wenn die moderne Hirnforschung Roszak mit gewichtigen Argumenten widersprechen dürfte - die kantische These, dass Kausalität durch Freiheit zur Erklärung der Welt nötig sei, hat seiner Antithese gegenüber immer noch eine gewisse Plausibilität; allerdings kann sie keine absolute Gültigkeit mehr beanspruchen.

 

Die Frage, in welcher Beziehung die Kultur zur Freiheit der Menschen steht, wird in aufgeklärten Gesellschaften meist mit der Annahme eines engen und produktiven Zusammenhanges beider Begriffe beantwortet; nach liberalem Verständnis ist eine hochentwickelte Kultur das Komplement von gelebter Freiheit. Indessen gab und gibt es durchaus auch zum Beispiel religiös-fundamentalistisch motivierte Ansichten, die in einer liberalen Kulturauffassung allzu hedonistische und permissive Tendenzen oder gar eine für die Moral der Menschen schädliche Zügellosigkeit sehen. Die freiheitliche Kultur musste und muß sich historisch gegen die Vorwürfe des Hedonismus, der Permissivität und der Unmoral in gleicher Weise durchsetzen wie das Postulat der Freiheit selbst. Dazu schreibt der liberale Philosoph Karl Jaspers (1883 – 1969): „Man wendet sich gegen den Liberalismus, sieht nur dessen Erstarrung im Gehenlassen und im äußerlichen Fortschrittsglauben, nicht die tiefe Kraft der Liberalität. Man wendet sich gegen die Toleranz als herzlose Gleichgültigkeit der Glaubenslosen und sieht nicht die universale menschliche Kommunikationsbereitschaft. Kurz, man verwirft unseren Grund von Menschenwürde, Erkennenkönnen, Freiheit und rät zum geistigen Selbstmord der philosophischen Existenz.“ Der Schriftsteller und langjährige Direktor der Gummersbacher Theodor-Heuss-Akademie Rolf Schroers (1919 – 1981) bekräftigt in seinen Texten die Jasperssche Position und sieht die Gefahren der aus antiliberalem, dogmatischem Denken resultierenden Freiheitsfeindlichkeit in alten wie in neuen Formen der Intoleranz: „Die Religion, scheinbar verdrängt oder überwunden, schafft neue Kader der Intoleranz, deren erste merkwürdig archaische Disziplinierung das Opfer des eigenen Bewusstseins auf dem Altar des richtigen Bewusstseins ist. Wie sollte auch politische und intellektuelle Skepsis, wie sollte eine Toleranz, die anderer Wahrheit die Möglichkeit einräumt, auch wahr zu sein, zur ideologischen Radikalisierung und zur aktionistischen Propaganda taugen?“ Erst wenn an die Stelle von Radikalität und Propaganda Liberalität und Kommunikation treten, kann eine Kultur der Freiheit sich durchsetzen.

Toleranz und Pluralismus sind die entscheidenden Voraussetzungen dafür, dass eine produktive Wechselwirkung zwischen Kultur und Freiheit zustande kommt: Je freiheitlicher eine Gesellschaft organisiert ist, desto reicher ist ihr Kulturleben und umgekehrt. Eine liberale Kultur fördert die selbstbestimmte Entwicklung der Menschen und eröffnet ihnen differenzierte „Lebenschancen“; gleichzeitig bildet die Freiheit den Nährboden für die kulturelle Vielfalt. Zwar sagt diese Vielfalt noch nichts über die Qualität der kulturellen Leistungen aus, und auf dem freien Kulturmarkt werden eine Fülle von „Kulturgütern“ gehandelt, auf die manche gern verzichten würden; aber kulturelle Freiheit ist ohne Toleranz auch für umstrittene Produkte und fragwürdige Leistungen nicht zu haben. Eine wie auch immer legitimierte Gängelung und Zensur würde eine Verkümmerung des kulturellen Lebens nach sich ziehen; überdies ist vieles „Geschmacksache“, vor allem wenn es um neue Formen kulturellen Engagements geht, die sich um Traditionen nicht scheren. Der englische Philosoph Bertrand Russell (1872 – 1970) hat in diesem Zusammenhang die Empfehlung formuliert: „Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heute gängige Meinung war einmal exzentrisch.“ Soweit sie sich nicht dogmatisch einkapseln, fördern sich unterschiedliche Kulturauffassungen außerdem gegenseitig, bilden Synergien und regen zu neuen Entwicklungen an; so wird die Gefahr der Erstarrung abgewiesen und die Kultur gelangt auf eine neue und andersartige Ebene ihrer Qualität.

Die „Zulässigkeit des Andersseins“ (Schildt / Siegfried) ist eine der wichtigsten Triebfedern für eine lebendige, von Freiheit beseelte gesellschaftliche Kultur. Dies „Anderssein“ wird freilich häufig genug im Interesse von mächtigen Konventionen und Organisationen in der Gesellschaft zu behindern oder gar zu unterdrücken versucht. Christian von Ferber schreibt dazu: „Der Appell an die Solidarität gegenüber äußerer Gefährdung, die Übertreibung von möglichen Sanktionen gegenüber nichtkonformem Verhalten, die schlichte Voraussetzung der Zweckmäßigkeit und Vernünftigkeit bestehender Satzungen, sie alle zielen darauf ab, den einzelnen einzuschüchtern und ihm die Formulierung sinnvoller Alternativen zu verwehren.“ In einer solchen Situation gewinnt der Staat, dessen latenter, machtorientierter Tendenz zur „Einschränkung der Freiheit“ die Grundrechte Einhalt gebieten sollten, eine neue Funktion. Wiederum von Ferber: „Wollten die Grundrechte ursprünglich dem einzelnen gegenüber dem staatlichen Zugriff die Freiheit der Initiative bewahren, so haben sie im Ergebnis eine Machtentfaltung im staatsfreien Raum gefördert, die den Staat zum Verbündeten des einzelnen macht, um gegenüber der sozialen Macht die Freiheit zu erhalten.“ Die Freiheit des Einzelnen auch gegenüber den Ansprüchen und Erwartungen mächtiger sozialer und ökonomischer Organisationen zu sichern, ist eine der zentralen Aufgaben, die der Staat aufgrund seiner verfassungsmäßigen Pflichten wahrnehmen muß. Nur so ist eine pluralistische Kultur zu gewährleisten.

Es gibt allerdings einige wenige Beispiele für eine relativ reiche, wirkungsstarke Kultur auch in totalitären, unfreien Gesellschaften. Dabei handelt es sich dann freilich um eine geknebelte Kultur, die von einer Ideologie in Dienst genommen wird und der jede liberale Entwicklungsmöglichkeit fehlt. Dies war für kurze Zeiträume etwa in der Sowjetunion (Eisenstein, Majakowski, Gorki, Scholochow etc.) und in der DDR (Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Hermann Kant, Peter Hacks, Erwin Strittmatter, Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer u.a.) zu beobachten. Dort stellten sich „Kulturschaffende“ zumindest für eine gewisse Zeit ausdrücklich in den Dienst der sozialistischen Ideologie. Man kann indessen den Eindruck gewinnen, dass diese restriktive Ausprägung einer systemstabilisierenden Kultur eher von außen bewundert wurde als dass sie sich endemisch wirklich durchsetzen konnte. Auch kann man die Produktivität der Künstler unter den Bedingungen der kommunistischen Diktatur durchaus kritisch beurteilen. (Bertolt Brecht etwa hat nach seiner Übersiedelung in die DDR im Jahre 1948 bis zu seinem Tod keine wichtigen künstlerischen Werke mehr verfasst.) Das mögen allenfalls die privilegierten „Kulturschaffenden“ selbst anders gesehen haben, wie beispielsweise Äußerungen von Christa Wolf in einem Artikel zu ihrem 80. Geburtstag am 13. März 2009 in der „Süddeutschen Zeitung“ und ein Interview mit Bernhard Heisig im SPIEGEL vom 29. Mai 2009 nahelegen. (Wie die nationale öffentliche Meinung sich zu dem systemkonformen Engagement von Künstlern verhielt, läßt sich an einem in der DDR verbreiteten Kalauer über den Maler Willi Sitte zeigen, der etliche sozialistische Führungskader porträtiert hat: „Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt!“)

 

In welchem Maße und mit welchen Folgen die Kunst als wesentlicher Ausdruck der Kultur in einem Lande unter totalitären oder partiell totalitären Bedingungen ihre Freiheit verlieren kann, in welchem Maße sie sich aber auch selbst immer wieder in den Dienst politischer Ideologien und metaphysischer Theorien stellt, hat am Beispiel der Musik Stephan Heisel in seinem Buch „Politik und Musik – Musik zwischen Zensur und politischem Missbrauch“ dargestellt. Er untersucht die Auftrags- und Huldigungsmusik sowie ihre Vereinnahmung durch die Politik, die Bekenntnis- und Ideologie-Musik sowie schließlich das politische Lied und die Hymnen als Staatssymbole. Überall wird dabei deutlich, dass sich Musik vorzüglich eignet, für politische Zwecke eingesetzt oder missbraucht zu werden, weil sie die Emotionen, das Gefühl der Menschen anspricht und von rationalen Unzulänglichkeiten ablenkt, ja sie ganz unwichtig erscheinen lässt. Ob man deshalb mit Marcel Reich-Ranicki davon sprechen kann, dass die Musik zwar eine Göttin, aber zugleich ein Hure sei, mag dahingestellt sein. (Immerhin fügt er hinzu, sie sei vermutlich die reizvollste Hure, die es je gegeben hat.) Jedenfalls ist sie für totalitäre Systeme sowohl indem sie in Dienst genommen wird, aber auch weil sie sich, wie leider gleichermaßen die Poesie und die Bildende Kunst, selbst gelegentlich der Politik andient, ein willkommenes Mittel zur Dekoration und zur Verbrämung der Macht und der Machthaber.

 

Dass aber auch in demokratischen Gesellschaften Freiheit und damit eine liberale Kultur stets gefährdet sind, hat eine Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie zum Freiheitsverständnis der Deutschen aus dem Oktober / November 2003 mit dem Titel „Der Wert der Freiheit“ gezeigt. Im Fazit dieser Studie heißt es: „Das vielleicht deutlichste Ergebnis der vorliegenden Grundlagenstudie zum Thema Freiheit ist, dass die tiefe Widersprüchlichkeit erkennbar geworden ist, die die Einstellung vieler Deutscher gegenüber dem gesellschaftlichen Wert der Freiheit kennzeichnet und die mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs allein nicht erklärt werden kann. Es konnte gezeigt werden, dass Freiheit, verstanden im Sinne von Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, ein zentraler Wert sowohl für den ökonomischen Erfolg einer Gesellschaft als auch für die subjektive Lebenszufriedenheit des einzelnen ist. Die Bevölkerung in Westdeutschland, mit einigen Abstrichen aber auch in den neuen Bundesländern, misst diesem Wert auch eine hohe Bedeutung bei, wenn auch im Verlauf des letzten Jahrzehnts, besonders in der ersten Hälfte der 90er Jahre Verschiebungen zugunsten der konkurrierenden Werte Gleichheit und Sicherheit zu beobachten waren. Untersucht man dann jedoch die persönliche Lebenseinstellung der Bevölkerung etwas genauer, stellt sie vor konkrete Alternativen, bei denen sie sich zugunsten der Freiheit oder der Gleichheit oder Sicherheit auf Kosten der Freiheit entscheiden müssen, fällt die Entscheidung oft zuungunsten der Freiheit aus. Im konkreten Einzelfall scheuen viele Menschen die Folgen, die eine konsequente Orientierung an diesem unbequemen Wert nach sich ziehen würde.“ Es ist also durchaus Wachsamkeit gefordert, damit der „Freiheitsgehalt“ im alltäglichen Leben nicht angetastet wird und damit sich die Menschen „im Zweifel für die Freiheit“ (Werner Maihofer) entscheiden; damit die Kultur in der demokratischen Gesellschaft belastbar sowie von Vielfalt und Toleranz gekennzeichnet bleibt.

 

Dass Freiheit und Kultur eng miteinander verknüpft sind, stellt sehr anschaulich und überzeugend der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, Träger des Freiheitspreises 2008 der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, in seinem kurzen Text „Die Kultur der Freiheit“ von 1985 dar (in: Mario Vargas Llosa: Gegen Wind und Wetter. Literatur und Politik. Frankfurt am Main 1988. S. 205 – 224). Er spricht von einer „unbegrenzten Freiheit der Dichter, Künstler und Denker“, der die Wiege aller okzidentalen kulturellen Entwicklung, das klassische Griechenland, seine Wirkung verdanke und die zur Ausbildung des „souveränen Individuums“ sowie zur „Humanisierung der Gesellschaft“ geführt habe. Freiheit zu definieren, so Vargas Llosa, sei ungeheuer schwierig: „… dass wir denen misstrauen sollen, die den Anspruch erheben, die Freiheit zu definieren, weil sich im allgemeinen hinter jedem Definitionsversuch die Absicht [verbirgt], sie abzuschaffen.“ Gleichwohl lasse sich Freiheit in der historischen Erfahrung und Situation leicht orten: „So ungeheuer schwierig es ist, sie zu definieren, so leicht ist es, sie zu identifizieren, zu wissen, wann sie existiert, ob sie echt ist oder Trug, ob wir sie genießen oder ob man sie uns genommen hat.“ Die Kennzeichen einer Zivilisation, die zur Freiheit in Kunst und Wissenschaft führe, definiert Vargas Llosa mit Blick auf die lateinamerikanischen Staaten wie folgt: „Bewegung, Fortschritt, rasche Entwicklung der Techniken, Vermehrung der Industriezweige, Intensivierung der Kommunikation zwischen den Menschen und den Ländern, Schwächung der religiösen Kultur und wachsende Hegemonie der Rationalität, Zerfall und Zusammenbruch der alten sozialen Hierarchien, die mit Namen, Titel und Militärfunktion verbunden waren, und ihre Ersetzung durch neue Hierarchien, die sich vom Besitz und von der ökonomischen Funktion der Individuen herleiten.“ Aus europäischer Perspektive würden wir hier gewiß den Aspekt gleicher Chancen für Bildung und Ausbildung sowie die Gewährleistung von Pluralismus und Toleranz hinzufügen.  

 

Gleichzeitig warnt Vargas Llosa vor dem Gebrauch der „unbegrenzten, verantwortungslosen Freiheit“: „Die Freiheit, Nährboden für das Beste, was dem Menschen widerfahren ist, und seine größte Sehnsucht, ist auch ein Abgrund, in den er stürzen und in dem er zerschellen kann.“ Die „hemmungslose Ausübung der Freiheit“ führe zu einem „Verschwinden der Kultur“ und zur Rückkehr des Menschen in den animalischen Naturzustand. Freiheit braucht also Regeln, die im Zusammenleben der Menschen Beachtung finden, damit sie für alle gleichermaßen gelten kann und damit sie nicht zur Anarchie oder zum „Recht des Stärkeren“ führt. Dies meint auch Friedrich Naumann (1860 – 1919), wenn er formuliert: „Die Freiheit des einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen, des Nächsten beginnt.“ In Artikel 2 des Grundgesetzes haben die deutschen Verfassungsväter und –mütter dieser Erkenntnis Rechnung getragen und festgelegt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

 

Eine weitere Gefahr besteht nach Vargas Llosa darin, dass Menschen sich den Anforderungen der Freiheit und der Pflicht zur Verantwortung, die ihre Kehrseite ist, nicht gewachsen zeigen: Totalitäre Ideologien und religiöser Fanatismus böten ihnen die „Wohltaten einer geknebelten Freiheit“ an, in die sie sich scheinbar retten könnten, wenn Angst vor der Freiheit und ihren Risiken an die Stelle von Verantwortungsbereitschaft trete. Man ist an den Satz von Sören Kierkegaard (1813 – 1855) erinnert: „Die Angst ist der Schwindel am Abgrund der Freiheit.“ Für den dänischen Philosophen und Theologen rechtfertigt sich dadurch die Trost- und Rettungsfunktion christlichen Glaubens, die freilich stets ambivalent bleibt, weil sie gleichzeitig dazu angetan ist, den Menschen zu manipulieren, ihn seiner Mündigkeit und damit auch ein Stück weit seines Glücks zu berauben.

 

Dass der Weg in die Unfreiheit autoritärer und totalitärer Systeme auch für Intellektuelle zumindest als theoretisches Modell immer wieder eine verführerische Attraktivität hat, zeigt Vargas Llosa an den lateinamerikanischen Diktaturen und ihren Apologeten; beispielhaft weist er auf den kolumbianischen Literatur-Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez und dessen Verehrung für Fidel Castro hin. In Deutschland haben wir mit den „Versuchungen der Unfreiheit“ (Dahrendorf) unsere eigenen Erfahrungen machen müssen, und der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss (1884 – 1963), spielt auf die düsteren zwölf Jahre der Nazi-Diktatur an, wenn er 1951 bemerkt: „Denn mit Politik – das haben wir erlebt – haben wir Kultur verjagt, nicht bloß Menschen, Künstler, Gelehrte, sondern auch Werte.“ In seiner berühmten Rede beim „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ vom 18. März 1946 „Deutschland – Schicksal und Aufgabe“ hat Heuss das Dilemma der Deutschen in aller Deutlichkeit benannt: „Aber aus dieser Geschichte missglückter Freiheitskämpfe ist dem Deutschen eines geblieben, bis in unsere Tage hinein (der Nationalsozialismus hat dies ausgenutzt): die Angst vor dem Atem der Freiheit. Wir haben in Deutschland nie das erlebt, was man als elementaren Liberalismus, über den Parteibegriffen stehend, ansehen könnte.“

 

Das Fehlen der Erfahrung mit einem solchen elementaren Liberalismus in muslimischen Ländern mag auch die unsere Gegenwart bedrohenden Konflikte zwischen einer aufgeklärten, westlichen Kultur und dem dogmatischen, militanten Islamismus erklären können. Allerdings wird durch die gelegentlich zu hörende Forderung, der Islam müsse die Aufklärung nachholen, dieser Konflikt nicht zu entschärfen sein. Der von Vorurteilen freie, faire Dialog zwischen den Kulturen und den Religionen sowie die gegenseitige Verpflichtung auf Grund- und Menschenrechte dürfte der einzig gangbare Weg sein, dem Konflikt zu begegnen.

 

Ob ein solcher Dialog indessen auch den abgrundtiefen Hass beseitigen kann, der in den Tiraden und Aktionen terroristischer Bedrohung zum Ausdruck kommt, kann heute wohl niemand mit relativer Sicherheit vorhersagen. Wichtig ist indessen, dass keine falschen Sympathien gegenüber inhumanen Kulturen und Praktiken aufkommen; es wäre grundfalsch, um des Dialogs willen die Unverzichtbarkeit der Freiheit und die universale Geltung der Menschenrechte anzutasten. Dirk Maxeiner und Michael Miersch haben dazu in ihrem Buch „Die Zukunft und ihre Feinde“ Wichtiges und Richtiges gesagt. Ein Zitat: „Offenbar hat aber ein Teil der westlichen Intellektuellen vergessen, dass man Freiheit nicht geschenkt bekommt. Stattdessen predigen sie Verständnis für militante Ignoranz. Demokratie und Menschenrechte sind gegen die Kräfte der Religion errungen worden. Wissenschaftliche und technische Fortschritte mussten teilweise gegen den erbitterten Widerstand frommer Mächte durchgesetzt werden. (…) Es wäre dagegen ein epochaler Rückschritt, irgendwelche Konzessionen an Islamisten zu machen.“ – Wenn der liberale Außenminister und Bundesvorsitzende der Freien Demokraten Guido Westerwelle im November 2009 in einem SPIEGEL-Interview sagt: „Im Übrigen wären wir moralisch gescheitert, wenn wir unsere Liberalität einschränken würden, weil andere sie nicht teilen.“, so drückt er damit in allgemeiner Form dieselbe Überzeugung aus: Zurückzuweichen vor freiheitsfeindlichen Strategien und Forderungen wäre Verrat an den Werten humanistischer Kultur und Zivilisation .

 

Der von dem amerikanischen Politologen Samuel Huntington (1927 – 2008) in die Nachfolge des Kalten Krieges gestellte „Kampf der Kulturen“ muss allerdings seiner Militanz und Dogmatik entkleidet werden, damit er nicht in die Barbarei führt; wenn es denn überhaupt einen Kampf der Kulturen gibt. Zutreffender wäre wohl, von einem Kampf dogmatischer und inhumaner Ideologien gegen die Kultur der Freiheit zu sprechen. Dass indessen nicht nur islamistische Fundamentalisten, sondern auch demokratische Staaten für inhumane Praktiken anfällig sind, hat beispielsweise Guantanamo gezeigt; es ist zu hoffen, dass diese Fehlentwicklung keine Weiterungen zeitigt. Es mag sein, dass zur Verteidigung von Demokratie und humanistischer Kultur auch der Einsatz von Gewalt als äußerstes Mittel legitim sein kann – so sieht es zum Beispiel der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr und so wird mit Hinweis auf die Überwindung der Nazi-Diktatur immer wieder argumentiert -, aber sie darf nicht im Namen von Selbstgerechtigkeit, sondern allenfalls im Falle von Notwehr angewandt werden.

 

Ein freies Gemeinwesen braucht das Fundament einer humanen, aufgeklärten Kultur, um das friedliche und solidarische Zusammenleben der Menschen gewährleisten zu können. Stets jedoch sieht es sich durch totalitäre Ideologien und religiösen Fanatismus herausgefordert, angefeindet und in seiner Existenz bedroht. Dem factum humanum steht das factum brutum stets gegenüber - so hat es der Philosoph und Literat Ludwig Marcuse (1894 – 1971) formuliert. Die Geschichte zeigt, dass das factum brutum allzu oft die Oberhand gewinnt. Für den Kritiker und Literaturwissenschaftler Richard Alewyn (1902 – 1979), der Deutschland 1933 verlassen musste, fand diese unselige Dialektik politischer und kultureller Entwicklung im Nazi-Regime und seinen Symbolen eine zynische Bestätigung; darauf weist Wolf Lepenies hin: „Humanität und Bestialität waren deutsche Nachbarn; die moralische Topographie Deutschlands war für immer dadurch gezeichnet, dass das KZ Buchenwald in der Nähe zu Weimar errichtet worden war.“

 

Auch bei Ernst Cassirer (1874 – 1945), dem jüdischen Philosophen, der wie Marcuse und Alewyn vor den Nazis fliehen musste, findet sich bei aller Betonung der Fähigkeiten des Menschen zur Selbstbefreiung die Einsicht in das Janus-Gesicht der menschlichen „Kulturnatur“; Kulturentwicklung im neutralen Sinne umfaßt stets beides: Konstruktion und Zerstörung, Veredelung und Verrohung. Die Kulturgeschichte ist kein geradliniger Prozess zu einer sich stetig vervollkommnenden Humanisierung und Ästhetisierung der Welt; Rückfälle in die Barbarei bilden seine Kontrapunktik. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auf der Erde, Freiheit und Demokratie auf der einen sowie Unterdrückung und Diktatur auf der anderen Seite, führte und führt in aller Geschichte, die wir überblicken, zu immer neuen Konflikten. Der Prozess der Kultur stellt sich als ein dialektischer Prozess dar, in dem Humanitätsverlust auf Humanitätsgewinn folgt. Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 – 1918) spricht in diesem Zusammenhang von der „Tragödie der Kultur“. Sie zeigt sich vor allem dann, wenn selbst das Inhumane zur Kultur erklärt wird. In den Schriften von Osswald Spengler, Ernst Jünger und Carl Schmitt zum Beispiel sind Positionen zu finden, die gar den Krieg als Höhepunkt des Lebens feiern. Die kriegerische Heldenhaftigkeit des Menschen zu überhöhen, bedeutet aber nichts anderes als hinter die Leistungen der Kultur zurückzufallen, die die Anerkennung universell bindender Gesetze, das geduldige Bemühen um einen friedlichen Ausgleich der Interessen, über den sogenannten „urwüchsigen Kampfgeist“ stellen. Das Animalische im Menschen, das factum brutum, bewirkt, dass ein solches pervertiertes Kulturverständnis immer wieder und anscheinend überall eine Faszination ausübt, die brutaler Gewalt im Dienste von scheinbar hehren Zielen den Nimbus einer besonderen Heldenhaftigkeit verleiht und sie deshalb kultivierten und zivilisierten Problemlösungen vorzieht. Die Natur siegt über die Kultur, die Bestialität über die Humanität. (Freilich sind die Gewalt und ihre Verherrlichung stets auch Thema in den Künsten gewesen, man denke nur an die „Ilias“ und die Shakespeareschen historischen Dramen; heute sind sie besonders anschaulich in einer Fülle von Filmproduktionen und Internet-Spielen zu besichtigen. Es mag immerhin sein, dass solche Produktionen, den griechischen Tragödien vergleichbar, eine kathartische Funktion ausüben und die Menschen im Alltagsgeschehen psychologisch von ihren triebgesteuerten Begehrlichkeiten entlasten.)

 

Dieser Tragödie, diesem Teufelskreis zu entkommen, ist gelegentlich das „Projekt der Moderne“ genannt worden, die Aufgabe, die der menschlichen Entwicklungsgestaltung insbesondere nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges erwachsen ist. Die Humanität der Moderne hat sich darin zu erweisen, dass sie sich das menschliche Potential zur Barbarei bewusst macht und es in einem zivilisatorischen und kulturellen Prozess solidarisch überwindet. Die Entfaltung einer liberalen Kultur im emphatischen, diskursorientierten Sinne ist der Kern dieses Prozesses; sie braucht den Rahmen einer freiheitlich organisierten, toleranten Gesellschaft. In einer totalitären oder autoritären Gesellschaftsordnung kann freiheitliche Kultur nicht gedeihen. Beide Bereiche, Freiheit und Kultur, sind zur erfolgreichen Bewältigung des Projektes der Moderne aufeinander angewiesen. Rolf Schroers differenziert in diesem Zusammenhang gar zwischen Freiheit der Kultur und politischer Freiheit; Kultur dürfe sich der Politik nicht ausliefern, um ihre freiheitsdienliche Funktion zu bewahren: „Doch geht es nicht um politische Freiheit allein. Es geht um die wahrgenommene, selbstverantwortliche Freiheit der vielen. Es geht um eine Kultur der Freiheit, die sich von Politik nicht behelligen lässt, die von Politik allenfalls Subsidien erwartet. Es ist doch beängstigend, wie Politik bei uns das ganze Leben überwuchert, ansaugt, als ob sie die humane Hauptsache sei. Sie schafft oder vernichtet die Bedingungen humanen Lebens, nicht das Leben selbst. Dort gilt, soll es lebenswert sein, die herrschaftsfreie Kommunikation, die Vielfalt menschlicher Annäherung und Abwendung, die Sinnesfreude, der Schmerz. Eine Kultur der geselligen Selbstentfaltung und Ich-Erfahrung, deren humanes Eigengewicht eine humane Politik erst wirklich möglich macht und die in dann auch politische Kultur umschlagen könnte. Gerade der politische Liberalismus bleibt dumm, wo die gesellschaftliche Kultur verdorrt oder, schlimmer, sich selber an die Politik, ihre Grundwerte suchend, veräußert.“ (Freilich mag man an diesem Diktum auch Kritik anmelden können insofern als eine „Kultur der Freiheit“ durchaus mit einer liberalen politischen Kultur identisch sein könnte.)

 

Das „humane Eigengewicht“, die Wirksamkeit der Kultur ist zu messen am Grad, in dem sie das „Projekt der Moderne“ verwirklicht, dem Ideal der Humanität also nahe kommt und das factum brutum in die Schranken weist. Walter Erbe äußerte sich dazu im Jahre 1964 mit folgenden Worten: „In der Kulturpolitik fällt die Entscheidung darüber, in welcher Ordnung der Mensch der Zukunft leben wird, ob in einer freiheitlichen oder in Knechtschaft. Es trifft den Nagel auf den Kopf, was der liberale Philosoph Karl Jaspers ausgesprochen hat: An der Erziehung und Ausbildung unserer Jugend ‚liegt nicht nur der geistige Rang der kommenden Generation, sondern heute die Entscheidung zwischen Freiheit und totaler Herrschaft und am Ende das Dasein der Menschheit überhaupt’.“

 

Im gleichen Sinne argumentierte schon Friedrich Schiller (1759 – 1805), der deutsche „Dichter der Freiheit“. Bei ihm ist die Kultur allerdings im wesentlichen mit der Kunst identisch, von der er in seinem zweiten Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen sagt, sie sei „eine Tochter der Freiheit“. (Schiller hat es übrigens verstanden, seine Kunst auch ökonomisch zu verwerten – seine Stücke waren äußerst populär - und sich dadurch eine relative materielle Freiheit für sein künstlerisches und humanistisches Engagement erarbeitet. Ästhetische Autonomie hat eine ökonomische Komponente – eine Erkenntnis, die wir auch heute nicht vernachlässigen sollten.) Individuelle Freiheit ist aber zugleich das inhaltliche Grundmotiv seiner Dichtungen, von den „Räubern“ über den „Don Carlos“ bis zum „Demetrius“-Fragment. Mit der Verschmelzung von Kunst und Freiheit stellt Schiller sich bewusst in die klassische europäische Tradition, die ihren Ursprung im antiken Griechenland hat. Alexander von Gleichen-Rußwurm (1865 – 1947), ein Urenkel Schillers, schreibt dazu in seiner „Kultur- und Sittengeschichte aller Zeiten und Völker“: „Der Glaube an Freiheit, an eine Freiheit, die nichts anderes ist als Leben und Sterben in Schönheit, bildet den Messiasglauben des Griechentums, macht die Hellenen zum auserwählten Volk, macht, daß wir von diesem … die geistige Heimat erhielten.“

 

Auch als Wissenschaftler ist Schiller der Freiheit verpflichtet, dabei orientiert er sich vor allem an Immanuel Kant. Frei handeln wir nach Kant, wenn wir uns selbst unsere Zwecke setzen, unabhängig von sinnlichen Trieben oder metaphysischen Autoritäten. Dazu, so Kant, sind wir vermöge unserer Vernunft in der Lage. Schiller verbindet diesen Anspruch mit der Französischen Revolution, in der er verwirklicht werden soll; enthusiastisch begrüßt er den revolutionären Weg zur Freiheit und erhält von der Französischen Nationalversammlung das Ehrenbürgerrecht – schließlich aber sieht der Dichter das Experiment scheitern. („Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“, so die skeptischen Worte Immanuel Kants, die sich in Frankreich bestätigten.) Es ist, wie Florian Weber von der Universität Jena schreibt, durch ein Zuwenig und ein Zuviel an Moral gescheitert. Zuwenig, weil man Menschenleben nicht achtete, und Zuviel, weil man Tugendhaftigkeit mit der Guillotine erzwingen wollte.

 

Wie Friedrich Schiller und manche andere deutsche Künstler und Intellektuelle hatte auch Ludwig van Beethoven (1770 [?] – 1827) seine Hoffnungen auf die Realisierung der Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in die Französische Revolution und insbesondere in die Reformen General Napoleon Bonapartes gesetzt. Seine dritte Symphonie, die „Eroica“ (die Heroische), hatte Beethoven deshalb zunächst dem „korsischen Befreier“ gewidmet. Als Napoleon sich freilich im Jahre 1804 zum Kaiser ausrufen und von Papst Pius VII. in der Kirche Notre-Dame zu Paris salben ließ, nachdem er sich selbst die Kaiserkrone aufgesetzt hatte, und als er schließlich in Frankreich das Erbkaisertum durchsetzte, nahm der Komponist diese Widmung mit den enttäuschten Worten zurück: „Ist er auch nichts anderes wie ein gewöhnlicher Mensch? Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen, er wird sich nun höher wie alle anderen stellen, ein Tyrann werden!“ Freiheit und Moral verloren gegenüber dem absoluten Machtanspruch und seinem Erhalt ihren Vorrang. Viele Zeitgenossen wandten sich wie Schiller und Beethoven ernüchtert von Napoleon ab.

 

Um das richtige Maß an Moral zu erreichen, setzt Schiller auf die Kunst als Vermittlungsinstanz, auf die ästhetische Erziehung des Menschen; man könnte auch sagen: auf seine Kultivierung. Kunst will nicht moralisieren, sie will durch ihr eigenes Wirken die Freiheit propagieren und so dem Menschen das rechte Maß an Moral vermitteln. Man mag dies für naiven Romantizismus halten – Schiller indes hat vorgemacht, wie man mit Kunst nicht nur die Augen und Ohren, sondern auch die Herzen der Menschen erreichen kann. Bis heute flechten wir dem Dichter der Freiheit Kränze der Bewunderung und Begeisterung. Kunst ist also nicht nur eine Tochter, sondern auch, wie wiederum Weber sagt, die Hebamme der Freiheit.

 

Eine zum Teil vergleichbare Position findet sich im übrigen bei dem Komponisten Richard Wagner (1813 – 1883) – freilich mit ganz anders gearteten, nämlich nicht auf die individuelle Freiheit, sondern auf nationale deutsche Macht und Größe zielenden Absichten. In seinem Artikel „Die Kunst und die Revolution“ aus dem Jahre 1849 vertrat er die Auffassung, die Revolution sei notwendig, um eine wahre Lebensgemeinschaft herbeizuführen, was nicht auf politischem Wege, sondern nur durch die Kunst zu erreichen sei; insofern müsse der Künstler auch Revolutionär sein und seine Kunst in den Dienst der Revolution stellen. Erst wenn die Revolution gelungen sei, könne der Künstler sich der reinen Kunst widmen, weil man danach der Politik nicht mehr bedürfe.

 

Goethe hingegen, obwohl selbst Politiker, trennte in seinen Schriften sehr genau zwischen politischem und künstlerischem Engagement. „Sowie ein Dichter“, sagte er, „politisch wirken will (…), ist er als Poet verloren; er muß seinem freien Geiste, seinem unbefangenen Überblick Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit und des blinden Hasses über die Ohren ziehen.“ Dies war nicht zuletzt die Quintessenz seiner eigenen Erfahrungen mit der Politik im Großherzogtum Sachsen-Weimar. Der junge Herzog Carl-August hatte ihn 1775 als politischen Berater nach Weimar geholt und ihm sogleich eine Fülle an Zuständigkeiten übertragen. Über Goethes umfangreichen Aufgabenkatalog schreibt Johann Gottfried Herder nicht ohne Ironie: „Er ist … jetzt Wirklicher Geheimer Rat, Kammerpräsident, Präsident der Kriegskollegii, Aufseher des Bauwesens bis zum Wegbau hinunter, dabei auch Directeur des plaisirs, Hofpoet, Verfasser von schönen Festivitäten, Hofopern, Balletts, Redoutenaufzügen, Inskriptionen, Kunstwerken usw., Direktor der Zeichenakademie, in der er den Winter über Vorlesungen über die Osteologie gehalten; selbst überall der erste Akteur, Tänzer, kurz, das Faktotum des Weimarschen und, so Gott will, bald der Major domus sämtlicher Ernestinischer Häuser, bei denen er zur Anbetung umherzieht.“ Dieses Bündel an politischen und kulturellen Aufgaben hat Goethe am Ende indes zu der Überzeugung geführt, Politik verderbe die Kunst und sei dem kulturellen Niveau einer Gesellschaft abträglich. Die Veredelung des Menschen, die er für die Aufgabe der Kunst hielt, war ihm also keine politische Aufgabe. Der Künstler solle deshalb besser nicht dem eigenen, Goethes, Beispiel folgen, sondern sich von der Politik fernhalten. Als der Dichter Ludwig Uhland in das württembergische Parlament einzog, kommentierte Goethe dies mit dem Satz: „Der Politiker wird den Poeten aufzehren.“

 

In diesem Verständnis von Kultur, die sich der Politik verweigert, ja, ihr entgegengesetzt ist, zeigt sich eine Geisteshaltung, die in der Geschichte des deutschen Bürgertums bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg traditionsbildend wurde. Angereichert mit einem überheblichen Kulturnationalismus war sie der Freiheit der Menschen durchaus nicht zuträglich. Für Hans Kohn erklärt sich die Politikfeindlichkeit in Goethes Worten und Schriften indessen daraus, dass zu seiner (Goethes) Zeit „das deutsche Geistesleben der politischen und sozialen Entwicklung des Landes weit voraus“ war. Mag sein, dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer keine Äquivalenz von Politik und Geist gibt. Der Intellektuelle und Politiker Carlo Schmid (1896 – 1979) hat die Notwendigkeit ihrer Zusammenführung in einer Fülle an Texten in den Jahren nach 1945 beschworen. Rolf Schroers wiederum hat den Zusammenhang von Demokratie und Kultur in seinem im übrigen eher kulturpessimistischen Aufsatz „Gegenwirkung Kultur“ aus dem Jahre 1979 beschrieben: „Demokratie, humanes Leben, kann ohne gesellschaftliche Kultur nicht gedeihen, und gesellschaftliche Kultur braucht die im Grundgesetz verbürgte Freiheit. Der ist ein Verfassungsfeind, der solche Freiheit schmälert.“

 

Aus all diesen Stellungnahmen – von Goethe bis Schroers – geht vor allem die Ambivalenz des Verhältnisses von Kultur und Politik hervor; während die Angewiesenheit einer liberalen Kultur auf politische und gesellschaftliche Freiheit – und vice versa - ganz überwiegend unbestritten bleibt. Daß es in der Kultur stets an prominenter Stelle um die Freiheit des Menschen, um die ungehinderte Entfaltung seiner Kreativität geht, dass Freiheit ein ersehntes und besungenes Ideal war und bleibt, zeigt auch ein zeitgenössisches Lied des österreichischen Musikers und Poeten Georg Danzer (1946 – 2007) aus dem Jahre 1979:

Die Freiheit

Vor ein paar Tagen ging ich in den Zoo,
die Sonne schien, mir war ums Herz so froh.
Vor einem Käfig sah ich Leute stehn,
da ging ich hin, um mir das näher anzusehn.

 

„Nicht füttern“ stand auf einem großen Schild
und „bitte auch nicht reizen, da sehr wild!“
Erwachsene und Kinder schauten dumm,
und nur ein Wärter schaute grimmig und sehr stumm.

 

Ich fragte ihn: „Wie heißt denn dieses Tier?“
„Das ist die Freiheit!“, sagte er zu mir,
„die gibt es jetzt so selten auf der Welt,
drum wird sie hier für wenig Geld zur Schau gestellt.“

 

Ich schaute und ich sagte: „Lieber Herr!
Ich seh ja nichts, der Käfig ist doch leer!“
„Das ist ja grade“, sagte er, „der Gag!
Man sperrt sie ein, und augenblicklich ist sie weg!“

 

Die Freiheit ist ein wundersames Tier,
und manche Menschen haben Angst vor ihr.
Doch hinter Gitterstäben geht sie ein,
denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein.