Kultur und Religion

 

Kultur hing und hängt eng mit religiösen Überzeugungen und Überlieferungen zusammen. Jacob Burckhardt schreibt dazu: „Hohe Ansprüche haben die Religionen auf die Mutterschaft über die Kulturen, ja die Religion ist eine Vorbedingung jeder Kultur, die den Namen verdient, und kann sogar geradezu mit der einzig vorhandenen Kultur zusammenfallen.“ Über Jahrhunderte war die Religion der bestimmende Nährboden, aber auch der normative Bezugsrahmen für Kultur. „’Kultur’, so mag man sagen, entsteht dadurch, dass ein zorniger Gott ständig den Menschen für seinen Ungehorsam bestraft und ihm neue Bürden aufhalst, die er tätig bewältigen muss.“ (Max Fuchs)

 

Im Zuge dieser „tätigen Bewältigung menschlicher Unzulänglichkeiten“ lieferten sich Staaten und Kirchen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder erbitterte Konkurrenzkämpfe um die Macht. Dabei ging es auch darum, den Kulturbegriff von den moralischen Vorstellungen der Kirchen zu lösen. Lange Zeit wurden in den europäischen Staaten christliche Moral und staatliche Gesetzgebung eng miteinander verknüpft, ja sogar als identisch angesehen. Erst mit der Säkularisation und den liberalen Emanzipationsbestrebungen der Aufklärung wurde diese Verknüpfung infrage gestellt. In einem mehr als ein Jahrhundert dauernden dialektischen Prozess konnte sich nach der Französischen Revolution von 1789 ein neues Verhältnis von Staat und Religion etablieren, das beide in der Mehrzahl der europäischen Staaten weitgehend voneinander unabhängig machte und die Religionsfreiheit festschrieb. Liberale politische Kräfte waren für diesen Emanzipationsprozeß vor allem verantwortlich; ihnen galt deshalb bis in das 20. Jahrhundert hinein die Stigmatisierung durch die christlichen Kirchen. Nach amtskirchlicher Auffassung war „der Liberalismus … der Feind [der Theologie] und seine philosophischen Erkenntnisse nur Missgeburten: Er stellte Wahrheit und Irrtum auf eine Ebene und verleitete zu Relativismus und Gleichgültigkeit. Gerade die Häresie der modernen Zeit, die aus der Reformation entstanden war, hatte die Einheit der Christenheit zerstört. Die römischen Päpste verdammten den Liberalismus ein um das andere Mal und geißelten die schädlichen Auswirkungen der Umsetzung solcher liberalen Freiheiten wie der Gedanken- und Pressefreiheit.“ (René Rémond: Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart. München 2000. Seite 128.)

 

Mit der Trennung von Kirche und Staat endete eine Interessen- und Ideologiegemeinschaft von Christentum und weltlichen Herrschern, die Jahrhunderte überdauert hatte. Seit der römische Kaiser Konstantin im Jahre 312 für kurze Zeit Religionsfreiheit im römischen Reich gewährt und sein Nachfolger Theodosius 380 schließlich das Christentum faktisch als Staatsreligion eingeführt hatte, waren christliche Religion und staatliche Obrigkeit in Europa untrennbar miteinander verflochten. Diese Verbindung führte zu einer Moral und Kultur, die von der Religion und ihren Gesetzen determiniert wurden. Nicht nur das religiöse Bekenntnis und das Handeln der Menschen im Alltag hatten christlichen Maßgaben zu folgen, auch alle Kunst, von der Malerei und Bildhauerei über die Musik bis zur Literatur, hatte der Religion zu dienen; erst mit der Renaissance versuchten die Künste sich dieses Prinzips zu entledigen, was freilich nur in sehr unterschiedlichem Maße gelang. Dass sich das religiöse Bekenntnis fest mit dem Leben jedes Einzelnen verband, stellt in satirischer Weise noch Georg Büchner (1813 – 1837) in seinem Lustspiel „Leonce und Lena“ dar, wenn er den Valèrio eine glückselige Zukunft am Ende wie folgt ausmalen läßt. „… und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!“

 

Aber nicht nur die Kunst , selbst die Wissenschaft konnte lange Zeit nur auf dem Boden christlicher Dogmatik gedeihen. Der Fall des Galileo Galilei (1564 – 1642) ist für die dogmatische Haltung der katholischen Kirche gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen wohl einer der prägnantesten. Zweimal, 1616 und 1633, verurteilte ihn die Inquisition, weil er die Lehre des Kopernikus wissenschaftlich bestätigt und in seinen Vorlesungen verbreitet hatte. Es war ihm gelungen, das heliozentrische Weltmodell aufgrund von empirischen Beobachtungen nachzuweisen. Die katholische Kirche jedoch hielt am geozentrischen Weltbild fest, weil es die Bibel-Exegese des Alten Testamentes so vorschrieb. Dort heißt es zum Beispiel im Buch Josua: „Sonne stehe still in Gibeon, und du, Mond, über dem Tale von Ajalon. Da stand die Sonne still und der Mond blieb stehen“ (AT/Josua 10,12-14). Also konnte Galilei nach Ansicht des römischen Inquisitionsgerichtes nicht recht haben. Man verurteilte ihn wegen Ketzerei zu lebenslanger Kerkerhaft, die in Verbannung umgewandelt wurde. Nur weil er seiner wissenschaftlichen Überzeugung abgeschworen, sie vor der Inquisition „verflucht und verabscheut“ hatte, entging er der Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen. Walter Erbe schrieb 1953 dazu: „Man darf annehmen, dass der Kirche der Kerker Galileis nur noch Verlegenheit bereitet.“ Erst im Jahre 1992/93 raffte die katholische Kirche sich dazu auf, Galilei zu rehabilitieren.

 

Schlimmer noch als Galilei war es dem Dichter, Philosophen und dominikanischen Priester Giordano Bruno (1548 – 1600) ergangen, den die Inquisition unter anderem wegen seines Eintretens für heliozentrische Weltmodelle und seines Postulates, das Weltall sei sowohl ewig als auch unendlich (dann lasse seine Lehre keine „Schöpfung“ und kein „Jenseits“ zu und stehe damit im Widerspruch zur Bibel, warf man ihm vor), nach jahrelanger erniedrigender Kerkerhaft in Rom am 17. Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen als Ketzer verbrennen ließ. Seine Ermordung wurde erst im Jahr 2000 vom päpstlichen Kulturrat als Unrecht erkannt. Vollständig rehabilitiert wurde er freilich nicht, da Brunos Pantheismus mit der katholischen Orthodoxie nicht vereinbar sei.

 

Ebenfalls bis heute hält der Vatikan an der Lehre von der „Transsubstantiation“, der veritablen Verwandlung von Brot in den Leib und Wein in das Blut Christie bei der Eucharistie fest. Die Schriften des französischen Naturwissenschaftlers und Philosophen René Descartes (1596 – 1650) wurden 1663 vom Papst verboten, weil der Gelehrte diese und andere Mystifikationen der Kirche als Aberglauben abgelehnt und den Zweifel anstelle des Glaubens in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hatte.  

 

Die Verbindung zwischen der weltlichen und der geistlichen Macht führte keineswegs zu einer harmonischen, friedlichen Symbiose. Vielmehr entzweite sie die Menschen sowohl im Bezug auf mancherlei theologische Abweichungen, die von der Inquisition der katholischen Amtskirche als Häresien brutal verfolgt wurden, als auch auf irdische Herrschaftsansprüche, um die geistliche und weltliche Fürsten sich immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen lieferten. Mit Martin Luther (1483 – 1546) und seiner Reformation des katholischen Glaubens kehrte das folgenreichste Schisma in die christliche Kirche ein, das trotz Ökumene bis heute andauert. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 versuchte den Konflikt zu lösen, ohne freilich die Verbindung von weltlicher und geistlicher Macht aufzugeben. Cuius regio eius religio hieß die Formel, nach der die jeweilige Staatskirche vom Landesherrn zu bestimmen war.

 

Der dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648, der Religionskrieg zwischen den katholischen und den reformierten Ländern, zerstörte ganze Landstriche und ihre Kulturen, zehn Millionen Menschen verloren in Europa ihr Leben. Mit Gewalt sollte der Kampf um den richtigen Weg der Christen zum Heil entschieden werden. Tatsächlich ging es um nichts als die Macht und um die Gebietsansprüche der katholischen bzw. protestantischen Fürsten. Der Westfälische Frieden von 1648 beendete den Krieg, konnte weitere gewalttätige Auseinandersetzungen aufgrund religiöser Differenzen im Christentum aber keineswegs verhindern. Bis heute dauert beispielsweise der Nordirland-Konflikt an, in dem sich Katholiken und anglikanische Christen feindlich gegenüberstehen.

 

Freilich werden die Kämpfe zwischen den christlichen Kirchen inzwischen bei weitem übertroffen von denen zwischen islamischen Religionsrichtungen untereinander sowie vom Krieg zwischen Islam und Judentum bzw. zwischen Islam und westlichem Kapitalismus, aber auch zwischen Islam und christlichen Kirchen. Hier prallen gegensätzliche Interessen und dogmatische Ideologien aufeinander, deren blutige Glaubenskämpfe jede friedliche, liberale Kultur unterminieren. Für Toleranz ist kein Platz, die Vernunft bleibt auf der Strecke. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die seit Jahrzehnten andauernde kriegerische Auseinandersetzung um die politische Macht zwischen Christen und Muslimen in Nigeria. Obwohl sich in dem westafrikanischen Staat inzwischen demokratische Strukturen wenigstens formal durchgesetzt haben, fordern die Kämpfe zwischen den Muslims im Norden und den Christen im Süden des Landes Jahr für Jahr um die eintausend Todesopfer.

 

Unter dem Deckmantel fundamental islamischer Religion und Ideologie, mit dem Ziel, der Scharia, der islamischen Rechtsordnung, weltweit Geltung zu verschaffen, ist eine neue Dimension gewalttätiger Konflikte zwischen säkularen Gesellschaften und rückwärtsgewandten Moralvorstellungen entstanden, der mit den seit dem Westfälischen Frieden von 1648 geltenden Völker- und Kriegsrechtsregelungen nicht mehr begegnet werden kann. Die neue, „asymmetrische“ Auseinandersetzung zwischen in der UNO zusammengeschlossenen Staaten und einem weltweit agierenden, scheinbar religiös motivierten Terrorismus erfordert neue Interpretationen von Kriegs- und Völkerrecht, die auch die Gefahr bergen, eine von liberalen Grund- und Bürgerrechten geprägte kulturelle Tradition zu beschädigen. Bisherige gewalttätige Konflikte nehmen damit eine neue rechtliche Qualität an. Die kontroverse Diskussion um den vom Bundeswehroberst Klein befohlenen Luftangriff im afghanischen Kundus vom 4. September 2009, der 142 Todesopfer forderte, wirft ein Schlaglicht auf diese neue Problematik.  

 

Eines der blutigsten Beispiele für Auseinandersetzungen aufgrund der Verflechtung und der Konkurrenz von weltlichen und kirchlichen Machtansprüchen im Christentum und für den Untergang jeglicher humanen und christlichen Kultur bildet die Plünderung Roms aus dem 16. Jahrhundert. Der „Sacco di Roma (Plünderung Roms) begann in den Morgenstunden des 6. Mai 1527 unter dem Pontifikat von Papst Klemens VII. Die Plünderungen dauerten mehr als einen Monat an.

 

Klemens VII. hatte 1526 die Allianz mit dem deutschen Kaiser und spanischen König Karl V. beendet und sich der profranzösischen Liga von Cognac angeschlossen. Ihr gehörten neben Papst Klemens VII. noch der Herzog von Mailand, die Republik Venedig, der französische König Franz I. und einige kleinere oberitalienische Herrscher an. Kaiser Karl V. hatte den französischen König Franz I. in der Schlacht bei Pavia gefangen genommen und von ihm den Verzicht auf Oberitalien gefordert. Um seine Freilassung besorgt, ging Franz auf die Forderungen ein, brach das Versprechen aber nach seiner Freilassung umgehend wieder. Die kaiserlichen Truppen, die in Oberitalien kämpften, hatten schon seit längerem keinen Sold mehr erhalten, und da der Papst mit seiner Bündnispolitik gegen den Kaiser arbeitete, gab es für die Söldner keine Hemmungen mehr, nach Rom zu marschieren, um die Stadt auszuplündern. Auch besonnene Befehlshaber wie Georg von Frundsberg und Charles Lannoy konnten die Truppen nicht davon abbringen. In den Morgenstunden des 6. Mai 1527 erreichte das aus über 20.000 Mann bestehende Söldnerheer Karls V. die heilige Stadt. Rom, eine der reichsten Städte dieser Zeit, war auf eine Belagerung nicht eingestellt, und so wurde sie von den deutschen, italienischen und spanischen Söldnern des Kaisers im Sturm erobert. Die Söldner raubten, folterten und töteten wahllos unter allen Ständen der Bürger. Einen Monat lang herrschte der Schrecken in der ewigen Stadt. Man geht heute von weit über 30.000 Opfern aus. Diese Zahl entspricht über der Hälfte der damaligen Bevölkerung. Kirchen und Paläste wurden geplündert und in Brand gesetzt, mehr als 90 % der Kunstschätze in Rom gingen in den Tagen des Mai 1527 verloren.

 

Papst Klemens VII. war von St. Peter aus durch einen Geheimgang, den „Passetto“, mit vierzig Wachleuten der Schweizergarde in die Engelsburg geflohen. Die letzten zurückgebliebenen Schweizer wurden zusammen mit ein paar hundert betenden Menschen vor dem Hochaltar von St. Peter niedergemetzelt, der Zugang zum Geheimgang wurde aber nicht gefunden. Die marodierenden Söldner, von denen die Deutschen zumeist Anhänger Luthers waren, brachen sogar die Gräber in St. Peter auf und störten die Ruhe der dort Bestatteten. Vor der Engelsburg wurde der Papst von den Söldnern verhöhnt, man rief vivat Lutherus pontifex! („Es lebe Papst Luther!“). In ein kostbares Fresco von Raffael ritzte man Spottverse. Nach einer mehrwöchigen Belagerung der Engelsburg kapitulierte am 5. Juni 1527 Papst Klemens VII. und schloss 1529 mit Kaiser Karl V. den Frieden von Barcelona. Im Rahmen des Friedensvertrags wurde die Schweizergarde aufgelöst und dem Papst wurde eine multinationale Schutztruppe aufgezwungen.

 

Der „Sacco di Roma“ ist ein erschreckendes Beispiel für die Folgen der Verstrickung des Vatikan in machtpolitische Konflikte zwischen rivalisierenden Potentaten. Aber nicht nur zwischen weltlichen Herrschern und der Kirche kam es im Laufe der Verbindung von Thron und Altar immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Auch innerhalb der christlichen Kirche führten Rivalitäten und Konkurrenzkämpfe um weltliche Macht zu erbitterten Konflikten, die wie im 14. Jahrhundert, der Zeit der „Babylonischen Gefangenschaft der Kirche“, mit dem Papst in Rom, einem Gegenpapst in Avignon und noch einem dritten Papst auf der Halbinsel Peniscola, zu grotesken Konstellationen und gegenseitigen Exkommunizierungen führten. Der dreißigjährige Krieg liefert indessen wohl das anschaulichste und abstoßendste Beispiel für religiös motivierte Kriege im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit sowie für die dadurch bewirkte Zerstörung von eben erst aufkeimenden Ansätzen einer humanen Kultur. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622 – 1676) hat mit seinem Roman „Der abenteuerliche Simplicissimus“ davon anschaulich Zeugnis gegeben.

 

Gleichwohl blieb die christliche Kirche in den meisten Staaten Europas, sei es in ihrem katholischen oder ihrem protestantischen Bekenntnis, die maßgebliche Instanz für Moral und Kultur. Erst mit der Aufklärung und der Verbreitung liberalen Gedankengutes geriet diese Stellung ins Wanken. Dazu schreibt René Rémond: „Die Liberalen wollten die Gewissensfreiheit auf die Trennung von Privatsphäre, dem Ort des persönlichen Glaubens, und dem Raum des öffentlichen Lebens gründen, wo die Religion nach ihrer Meinung nicht hingehörte. Unter ihrem Einfluss sollte sich der Konfessionsstaat in den liberalen Staat wandeln. In diese Denkweise spielte häufig auch eine Auffassung von Rationalismus hinein, die alles Religiöse als rückwärtsgewandt, als Herausforderung für die Vernunft und als Bedrohung der demokratischen Freiheit bekämpfte.“

 

Im 19. Jahrhundert, nachdem die Französische Revolution von 1789 den Anfang zur Trennung von Kirche und Staat gemacht hatte („la liberté des cultes“, die Freiheit der Religionsausübung, wurde in Frankreich gesetzlich verankert), fand in vielen europäischen Staaten ein „Kulturkampf“ statt, der sowohl gegen den Einfluss der Kirchen insgesamt als auch gegen bestimmte Konfessionen, in Preußen gegen die katholische Kirche mit ihren Privilegien und Pfründen, geführt wurde. Es ging darum, den Kirchen ihre Macht in Bereichen zu bestreiten, die traditionell zu ihren Domänen gehörten. Häufig stand die Zuständigkeit für das Bildungswesen im Brennpunkt der Auseinandersetzungen. Hier hatten die Kirchen über Jahrhunderte die Strukturen, das Personal und die Lehrpläne bestimmt, alles hing ab von ihren Maßgaben. Nun aber forderten die Liberalen dafür die Zuständigkeit des Staates und verlangten von den Kirchen, sich aus dem Bildungswesen und aus anderen öffentlichen Angelegenheiten weitgehend herauszuhalten. In der katholischen Kirche führte dies zu heftigen verbalen Attacken gegen den Liberalismus. Am 8. Dezember 1864 verkündete Papst Pius IX. im Zusammenhang mit der Enzyklika Quanta Cura den Syllabus errorum, der in achtzig Thesen alle aus Sicht des Vatikans verderblichen Symptome der neuen Zeit auflistete. Geächtet wurden neben Pantheismus, Rationalismus, Sozialismus und Kommunismus auch die „Irrtümer, welche sich auf den Liberalismus unserer Tage beziehen“. Trotz mancher positiv zu wertenden Aussagen (zum Beispiel der Verurteilung des Totalitarismus) ist der Syllabus ein „Grundriss antimoderner katholischer Weltanschauung“ (Rémond), der sich vergeblich gegen die Tendenzen der Zeit stemmte.

 

Solchen antimodernen Feldzügen der katholischen Kirche boten auch eine Reihe aufgeklärter Künstler der damaligen Zeit die Stirn, einer der prominentesten unter ihnen ist der italienische Komponist Giuseppe Verdi (1813 – 1901), der mit seiner epochalen Oper „Aida“ auch fundamentale Kritik an der antirepublikanischen und machtorientierten Haltung Papst Pius IX. in der Italien-Frage ausdrückte. Mit der Symbolik gregorianischer Chormusik weist Verdi im 4. Akt seiner Oper, die eigentlich in Ägypten spielt, auf den katholischen Klerus hin und setzt die ägyptischen Priester stellvertretend für die päpstliche Kurie aus dem Munde der Pharaonentochter Amneris anklagender Kritik wegen ihrer unbeugsamen und machtversessenen Haltung im Bezug auf die Hinmetzelung der äthiopischen Kriegsgefangenen aus. Im Sinne humanistischer Geisteshaltung hatte Amneris - vergeblich - deren Leben und ihre Rückkehr in die Heimat gefordert.

 

Der preußische Ministerpräsident und spätere Reichskanzler Otto von Bismarck (1815 – 1898) begann nach der Reichsgründung von 1871 den sogenannten „Kulturkampf“ gegen die Ansprüche und Privilegien der Kirchen in öffentlichen Angelegenheiten. Nur wenige Monate nach der Kaiserkrönung Wilhelms I. fasste der Reichstag auf Bismarcks Betreiben einen folgenschweren Beschluss: Der „Kanzelparagraph“ verbot es den Geistlichen, in ihren Predigten Stellung gegen die Politik der Regierung zu beziehen und drohte bei Zuwiderhandlung bis zu zwei Jahre Haft an. Bismarck empfand den politischen Katholizismus und die „Ultramontanen“ als feindliche Opposition zur preußisch-protestantischen Monarchie. Bei seinem Kulturkampf handelte es sich um einen kühl kalkulierten Schlag gegen die Macht der Kirchen, der die Stimmung der Zeit geschickt ausnützte. Die Verkündung des „Infallibilitätsdogmas“ durch Pius IX. im Jahre 1870, das den Papst in Glaubensfragen für unfehlbar erklärte, wurde auch von den Liberalen als unerhörte Provokation und eine Art Kriegserklärung gegen den modernen Nationalstaat und seine Kultur verstanden. Zwischen der katholischen Kirche und den liberal ausgerichteten Regierungen im Deutschen Reich kam es zu jahrelangen Auseinandersetzungen. Sie fanden ihre dramatische Zuspitzung, als Preußen per Gesetz den Kirchen (auch den protestantischen) das Recht zur Schulaufsicht entzog. Alle Schulen wurden nun einer staatlichen Inspektion unterstellt.

 

Die „Maigesetze“ von 1873, die die Kirchen unter anderem verpflichteten, den Behörden Amtsbesetzungen zu melden, verschärften den Konflikt. Auf den passiven Widerstand vieler Geistlicher und den Protest in der katholischen Bevölkerung reagierten die preußischen Behörden mit Amtsenthebungen, Verhaftungen und Ausweisungen. Die Kirchen verloren mit den Gesetzen über die obligatorische Zivilehe und die Einrichtung von Standesämtern wesentliche Aufgaben, die sie traditionell wahrgenommen hatten. Staatliche Zuschüsse wurden ihnen weitgehend gestrichen. Allerdings wurde der Zusammenhalt vor allem in der katholischen Bevölkerung durch solch rigorose Maßnahmen eher gestärkt. Der Kulturkampf führte alles in allem zu einer Niederlage Bismarcks, in der katholischen „Zentrums-Partei“ bündelte sich der politische Widerstand. Mit den „Milderungsgesetzen“ und später folgenden „Friedensgesetzen“ wurde die Auseinandersetzung ab 1880 zwar auch formell beendet, aber Regelungen wie die staatliche Schulaufsicht und die Zivilehe haben bis heute Bestand. Der „Kanzelparagraph“ wurde 1953 vom Deutschen Bundestag aufgehoben. Allerdings hat die katholische Kirche erst nach 1961 darauf verzichtet, vor den Bundestagswahlen bischöfliche Hirtenbriefe von den Kanzeln verlesen zu lassen, in denen vor der Wahl „sozialistischer“ und „liberalistischer“ Abgeordneter gewarnt wurde.

 

In den anderen Staaten Europas kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach den jeweiligen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern unterschiedlich schnell und in unterschiedlichem Ausmaß, ebenfalls zu einer Trennung von Kirche und Staat. Teils wurden Konkordate geschlossen, die das Verhältnis zwischen weltlicher Macht und den Konfessionen regelten. Insgesamt blieben die christlichen Religionen Teil der nunmehr liberaleren Kultur, ohne dass sie dafür indessen noch allein maßgeblich waren. Die Zeit der religiösen Dominanz im öffentlichen Leben und der Vorherrschaft christlicher Moralvorstellungen schien endgültig vorüber.

 

In Europa war nahezu ausschließlich das Christentum als Religion in die politische und kulturelle Entwicklung involviert - sieht man einmal ab von den Zeiten, in denen in Spanien und auf dem Balkan sich auch der Islam etablieren konnte. Noch heute ist sein Einfluß zum Beispiel in der maurischen Architektur auf der Iberischen Halbinsel, aber auch in Sprache und Musik wirksam. Allerdings muß man kann feststellen, dass vor allem die fundamentalistischen Strömungen des Islam mit der aufgeklärten Kultur des Westens nicht kompatibel sind, was freilich cum grano salis auch für fundamentalistische Tendenzen der anderen monotheistischen Religionen gilt. Jacob Burckhardt hat den Islam in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung deutlich vom Christentum unterschieden: „Der Islam, der eine so furchtbar kurze Religion ist, ist mit dieser seiner Trockenheit und trostlosen Einfachheit der Kultur wohl vorwiegend eher schädlich als nützlich gewesen, und wäre es auch nur, weil er die betreffenden Völker gänzlich unfähig macht, zu einer andern Kultur überzugehen.“ Mag sein, dass Burckhardt sich in der generellen Beurteilung der islamischen Religion allzu stark von westlichen Vorurteilen leiten lässt; richtig ist aber bis heute, dass der Islam bei Androhung des Todes seinen Mitgliedern verbietet, sich einer anderen Religion und Kultur anzuschließen.

 

Das Christentum passte seine Weltanschauung nolens volens der liberalen Entwicklung an, wenn es auch bis in die Gegenwart manches Merkmal der Moderne und der Postmoderne nicht zu akzeptieren bereit ist, etwa wenn es um Empfängnisverhütung oder um die Evolutionstheorie von Charles Darwin geht, der die konservativen „Kreationisten“ die Schöpfungstheorie des „intelligent design“ entgegenstellen. Abgesehen von dogmatischen Relikten dieser Art kann man aber feststellen, dass die christlichen Kirchen in Europa mittlerweile Teil einer pluralistischen Kultur geworden sind, die Meinungsfreiheit und Toleranz als Grundlagen friedlichen Zusammenlebens anerkennt.

 

In anderen Ländern vor allem des Orients hat sich der Islam zum Teil als Staatsreligion durchgesetzt. Dort herrscht aufgrund religiöser Differenzen häufig eine feindselige Haltung der Weltanschauungen untereinander – bis hin zum Bürgerkrieg und zum Terror gegenüber allen „Ungläubigen“. Dass unter solchen Umständen eine humane und liberale Kultur nicht gedeihen kann, ist offensichtlich. Wo Gewalt und Unterdrückung obsiegen, ist für ein friedliches, tolerantes Miteinander der Menschen kaum Platz. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist schwer vorstellbar, dass sich die fanatischen Gotteskrieger in absehbarer Zeit in eine weltweite liberale Kultur integrieren lassen. Es wird die beschwerlichste politische Aufgabe der Zukunft sein, dafür dennoch zu arbeiten.

 

Säkularisation

Im Zuge der Säkularisation und der modernen Verfassungsentwicklung, die von der Philosophie der Aufklärung angestoßen wurde, wurden Staat und Religion, und damit auch Kultur und Religion, in Europa mehr und mehr voneinander getrennt. Die Verfassungen statuierten Schutzrechte der Menschen und gestanden ihnen Gewissens- und Meinungsfreiheit zu. Dadurch entwickelte sich ein völlig neuer Kulturbegriff, der seine Maximen nicht mehr christlicher Moral entlehnte, sondern von der Autonomie jedes Einzelnen ausging. Die Menschen setzen sich nach Immanuel Kant (1724 – 1804) nun ihre Zwecke selbst und gestalten ihr Zusammenleben nach von ihnen selbst verantworteten Maßstäben. Mit der französischen Revolution von 1789 begann die institutionelle Entflechtung von Staat und Religion und damit auch die Entwicklung eines säkularen Kulturverständnisses, das den modernen Demokratien und ihren Verfassungen zugrunde liegt. René Rémond fasst diesen Prozeß mit den Worten zusammen: „Moral und Gesetz waren kongruent, heute streben sie auseinander, und darin liegt wahrscheinlich der so besonders neue und radikale Aspekt der Säkularisation. Nach der Religion zieht sich die Gesellschaft nun auch von der Moral zurück, die nur noch das persönliche Gewissen des einzelnen betrifft. (…) Der Liberalismus hat den Gipfel seines Triumphs erreicht: Der Staat stellt sich mit seiner Autorität nicht mehr hinter die Unterweisung in Sachen Moral.“  

 

Mit den Begriffen „Säkularisation“ oder „Säkularisierung“ (Der Terminus leitet sich vom lateinischen saeculum = Jahrhundert ab und bezeichnet allgemein den Übergang von „ewigen“ zu „zeitlichen“ Werten. Als Bezeichnung für die Enteignung von Kirchengut fiel das Wort „Säkularisation“ wahrscheinlich zum ersten Mal am 8. Mai 1646, und zwar bei den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden in Münster durch den französischen Gesandten Henry d' Orléans. Dieser bezeichnete mit der Formel séculariser den Übergang von katholischen Gütern in protestantischen Besitz.) werden in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Aspekte einer Entwicklung bezeichnet, die im westlichen Europa einerseits zur Entflechtung von Staat und Religion sowie andererseits zur neutralen Haltung des Staates der individuellen Religionsausübung gegenüber führte. Es ging aufgrund eines von Wissenschaft und Philosophie betriebenen emanzipatorischen Bestrebens darum, die Menschen aus der Abhängigkeit von dogmatischen Ideologien und „ungefragten Bindungen“ (Dahrendorf) zu befreien und ihnen die Entscheidung über ihre Weltanschauungen und Religionen selbst zu überlassen. Der „Kopernikanischen Wende“ des 16. Jahrhunderts, die das geozentrische durch das heliozentrische Weltbild ersetzt hatte, folgte eine analoge geistige Neuorientierung, die ihren Schwerpunkt auf die irdische Existenz des Menschen und nicht mehr vor allem auf seine jenseitige Erlösung legte. Die Religion und ihre Institutionen sollten aus dem öffentlich-politischen Raum verdrängt und durch weltliche, meist vom Staat kontrollierte Instanzen ersetzt werden. Den Kirchen wurden Privilegien und Pfründe entzogen, ihr Einfluss auf die öffentlichen Institutionen wurde mehr und mehr beschnitten. Enteignungen der Kirchen, die beispielsweise von Napoleon nicht nur in Frankreich, sondern überall in den von ihm eroberten Ländern durchgeführt wurden, wirken bis in unsere Zeit nach. Bis heute erhalten die Kirchen in Deutschland vor allem von den Bundesländern und den Gemeinden viele Millionen Euro jährlich an Entschädigungszahlungen für die zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchgeführten Verstaatlichungen. Dies, obwohl das Grundgesetz in Artikel 140 eine Ablösung solcher Verpflichtungen vorschreibt.

 

Eine wichtige Voraussetzung für die Säkularisierung war das Entstehen eines religiösen Pluralismus. Nach den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts existierten in Europa Katholizismus und Protestantismus nebeneinander. Das Wahrheitsmonopol, das die katholische Kirche über Jahrhunderte für sich in Anspruch genommen hatte, war schon durch die Koexistenz mehrerer religiöser Bekenntnisse infrage gestellt, wurde aber vollends fragwürdig, als sich auch areligiöse und antireligiöse geistige Strömungen wie der Deismus in Frankreich, aber auch Laizismus, Agnostizismus und Atheismus überall in Europa zu Wort meldeten und sich allmählich zu etablieren begannen. Indem solchen Weltanschauungen gegenüber den traditionellen christlichen Bekenntnissen von der Obrigkeit gleiche oder doch annähernd gleiche Geltung eingeräumt wurde, beförderten sie eine Entwicklung, die nicht nur Staat und Religion, sondern am Ende auch Staat und Kultur voneinander trennte. Werner Maihofer spricht von einer „schrittweisen Auflösung der ursprünglich vorhandenen Einheit von Staat, Religion und Kultur noch in den Staaten der Antike und des Mittelalters durch Trennung der Religion vom Staate am Ende der Neuzeit, und danach durch Trennung der Kultur vom Staate in unserer Gegenwart, die mit der Epoche der Moderne einsetzt.“ Die Epoche der Moderne ist gleichzeitig die Epoche der Aufklärung, die wissenschaftlicher Erkenntnis und demokratischer Willensbildung gegenüber religiöser Offenbarung und kirchlichem Dekret im öffentlichen Leben den Vorzug gibt. Seitdem hat der Liberalismus, wie Walter Erbe sagt, „einen dynamischen, nicht einen statisch-absolutischen Begriff von Wahrheit“. An die Stelle einer absolutistischen Staatsdoktrin, die alleinige Geltung beanspruchte, trat nun die Pluralität der politischen Meinungen, die sich in Deutschland allerdings erst nach langen internen Auseinandersetzungen und zwei blutrünstigen Weltkriegen gegen Feudalismus und Nationalismus durchsetzen konnte.

 

Dreierlei wurde durch die Aufklärung gegenüber den Jahrhunderten zuvor grundlegend verändert: Die Wissenschaften verdrängten die kirchliche Dogmatik, das politische Leben wurde entkonfessionalisiert, und die Religionsausübung wurde zu einer privaten und individuellen Angelegenheit. Die Forderung praktizierter Toleranz, die mit dieser Entwicklung einherging, führte zu einer pluralistischen gesellschaftlichen Kultur, die vor allem vom demokratischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts und von der allmählichen Auflösung der ständischen Gesellschaftsordnung begünstigt wurde. Gegen solche Tendenzen stemmten sich nicht nur der konservative Adel und die Kirchen, auch nationalistische Strömungen, faschistische Ideologien und die sich neu etablierenden sozialistischen Gruppierungen bedrohten den Prozess der Säkularisierung. Sie reklamierten anstelle der Religionen und Kirchen nunmehr den Besitz der Wahrheit für sich, strebten nach totalitärer Machtausübung und wurden erst nach zwei Weltkriegen von einer teuer erkauften demokratischen und liberalen Ordnung im Westen Europas überwunden. In den sozialistischen Staaten Osteuropas dauerte dieser Prozess bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts; seine Nachwirkungen halten bis heute an. Nur mit Blick auf die letzten Jahrzehnte kann die Säkularisierung als ein zivilisatorischer Fortschritt bezeichnet werden, der sich durch zunehmende Friedfertigkeit, Toleranz und Dialogfähigkeit auszeichnet. Das überkommene, von feudaler Herrschaft, von dogmatischer Religion und von totalitären Ideologien fremdbestimmte Zusammenleben der Menschen konnte in den westlichen Staaten Europas, und mit Verzögerung sowie mit unterschiedlicher Qualität nunmehr auch in den östlichen, von einer liberalen, pluralistischen Ordnung abgelöst werden. Indessen bleibt diese Situation bedroht durch neue irrationale Gefahren, die durch kapitalistische Fehlentwicklungen auf der einen Seite und durch von Migration und Globalisierung begünstigte neue religiös-fundamentalistische Tendenzen auf der anderen entstanden sind. Hausgemachte wirtschaftliche Probleme bedrohen die Prosperität und führen zu Attacken auf die liberale Ordnung von Marktwirtschaft und Demokratie, politisch instrumentalisierter religiöser Fanatismus entlädt sich in Gewalt und Terror, die eine freiheitliche Rechtsordnung sowie die Solidarität der Staatengemeinschaft herausfordern.

 

Der Philosoph Jürgen Habermas hat sich mit dieser Entwicklung intensiv befaßt. Er greift eine vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika aktuelle Debatte auf und spricht angesichts einer in der Zeit nach Beendigung des „Kalten Krieges“ festzustellenden Belebung weltanschaulicher Diskussionen und Auseinandersetzungen von einer „postsäkularen Gesellschaft“, die sich in der westlichen Welt herausgebildet habe. Drei sich überlappende Phänomene verdichteten sich zu einem Wiederaufleben des Religiösen („resurgence of religion“): Die missionarische Ausbreitung der großen Weltreligionen, ihre fundamentalistische Zuspitzung sowie die politische Instrumentalisierung ihrer Gewaltpotentiale. Obwohl festzustellen sei, dass die Säkularisation die Institutionen der Religion geschwächt habe, habe dies nicht zu einem Bedeutungsverlust des Religiösen geführt: „Das Bewusstsein, in einer säkularen Gesellschaft zu leben, verbindet sich nicht länger mit der Gewissheit, dass sich die fortschreitende kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung auf Kosten der öffentlichen und personalen Bedeutung von Religion vollziehen wird.“

 

Durch diese neue Situation, wie sie Habermas und andere beschreiben, sei vor allem das für eine säkulare Gesellschaft grundlegende Prinzip der Toleranz gefährdet; die Wahrheitsansprüche der Religionen stünden weltlich orientierten säkularen Vorstellungen zunehmend unversöhnlich gegenüber, weil man sich gegenseitig nicht mehr respektiere, sondern bestenfalls nur noch dulde: „Das Toleranzprinzip wird vom Verdacht einer hochfahrenden Duldung erst befreit, wenn die Konfliktparteien auf gleicher Augenhöhe zu einer Verständigung miteinander gelangen.“ Die gleiche Augenhöhe ist in der jüngsten Zeit indessen trotz beharrlicher ökumenischer Bestrebungen auch zwischen den christlichen Bekenntnissen untereinander nicht mehr gewährleistet. Sie wird auch dadurch infrage gestellt, dass der Vatikan im Jahre 2005 den Besitz der einzig wahren Autorität innerhalb des Christentums abermals ausschließlich für den Katholizismus beansprucht hat.

 

Eine solche dogmatische Haltung sowohl der Kirchen untereinander wie auch der großen Religionen gegenüber weltlich orientierten, säkularen Positionen und umgekehrt widerspricht liberalen Vorstellungen der Meinungsfreiheit sowie der gleichberechtigten Ansprüche der Weltanschauungen. Dabei dürfe, so Habermas, Liberalität nicht mit Indifferenz verwechselt werden, vielmehr lasse sich echte Toleranz nur im Bewusstsein unterschiedlicher Werthaltungen der Beteiligten üben, die freilich von dem stabilen Boden einer von allen Parteien akzeptierten humanen Grundhaltung getragen werden müsse. In der aktuellen Auseinandersetzung werde eine solche von gegenseitigem Respekt und Kommunikationsbereitschaft geprägte Grundhaltung freilich allzu häufig vermisst; die Positionen von säkularen Aufklärern auf der einen und Verfechtern kultureller, religiös motivierter Eigenart auf der anderen Seite stünden sich wieder und wieder unversöhnlich gegenüber. Es finde ein neuer Kulturkampf „Aufklärungsfundamentalismus versus Multikulturalismus“ statt. Dieser Kampf könne nur nach beiderseitiger Anerkennung von Liberalismus und Demokratie, wie es die katholische Kirche mit dem zweiten Vaticanum im Jahre 1965 versucht habe und wie es dem Toleranzgebot aufgeklärten Denkens entspreche, beigelegt werden: „Auch religiöse Bürger und Religionsgemeinschaften dürfen sich nicht nur äußerlich anpassen. Sie müssen sich die säkulare Legitimation des Gemeinwesens unter den Prämissen ihres eigenen Glaubens zu eigen machen.“ So wenig die Verfechter von Aufklärung und Säkularisation den religiös Gläubigen die Berechtigung ihrer Positionen absprechen dürften, etwa indem sie Irrationales mit Minderwertigem gleichsetzten, so wenig dürften die Anhänger der Religionen die säkulare Grundlage einer liberalen und toleranten Kultur infrage stellen, die erst Bedingung der Möglichkeit sei, gleichberechtigt und friedlich miteinander umzugehen. Dies Verständnis füreinander zu erreichen, sei nur durch einen komplementären Lernprozess im Diskurs möglich. Habermas fasst zusammen: „Wenn alles gut gehen soll, müssen sich also beide Seiten, jeweils aus ihrer Sicht, auf eine Interpretation des Verhältnisses von Glauben und Wissen einlassen, die ihnen ein selbstreflexiv aufgeklärtes Miteinander möglich macht.“

 

Die Habermassche Position zur Säkularisierung ist im Grunde nur eine intellektuelle Verklausulierung der für den Liberalismus grundlegenden Forderung, im Diskurs miteinander Toleranz zu üben und die westlichen Werte dabei nicht aufzugeben; allen am Diskurs zu Beteiligenden, ganz gleich, welchem Kulturkreis sie angehören, also die Bedingung zu stellen, die universale Geltung der Grund- und Menschenrechte ohne Abstriche zu akzeptieren. Allerdings gibt Habermas keine Hinweise darauf, wie diese Bedingung gegenüber den Feinden und Gegnern einer säkularen Welt durchgesetzt werden soll; auch scheinen die Grenzen der Toleranz gegenüber den mannigfachen Fundamental-Ideologien religiöser, metaphysischer und/oder politischer Provenienz nicht konturiert und konsequent genug gezogen. Das „selbstreflexiv aufgeklärte Miteinander“ dürfte angesichts gewaltbereiter Intoleranz vorläufig wohl ein Wunschtraum bleiben.

 

Festzuhalten bleibt, daß die Säkularisation, obwohl gerade erst zur Grundlage einer freiheitlichen Kultur geworden, auch in demokratischen Ländern möglicherweise schon wieder gefährdet ist. Dabei gab es viele Stimmen, die zu Beginn der 90er Jahre ungeachtet der Differenzen zwischen den Weltreligionen und ihren fundamentalistischen Ausprägungen voller Optimismus von einer „zwangsläufigen Evolution in Richtung Moderne“ sprachen. Wurde nicht sogar das „Ende der Geschichte“, posthistoire, beschworen? Nun aber stellen wir fest, dass eine liberale Kultur stets gefährdet bleibt und werden an das kantische Wort erinnert: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“

 

Zu hoffen und dafür zu arbeiten ist, dass der mancherorts angestrebten Relativierung der Säkularisation, wie Habermas sie auffindet, kein Erfolg beschieden sei. Es gilt, die Werte der Aufklärung und der liberalen Demokratie zu verteidigen und einem neuen Fundamentalismus entschlossen die Stirn zu bieten. Kein Diskurs darf dazu führen, die Freiheits- und Menschenrechte aufgrund falsch verstandener Toleranz anzutasten.

 

Der deutsche Philosoph Hans Blumenberg (1920 – 1996) hat den Weg in die Moderne und die Überwindung doktrinärer Ideologien sowie metaphysischer Sinnversprechen in seinen Büchern beschrieben und ist ihren Ursachen nachgegangen. Franz Josef Wetz, der Blumenbergs Werk interpretiert hat, fasst dessen Erkenntnisse wie folgt zusammen: „Nachdenklichkeit ohne Metaphysik ist Ausdruck einer bewußten Lebensführung aus dem Grunde eines vor nichts Halt machenden Fragens und Reflektierens, hegt aber als solche nicht mehr die Erwartung uneinlösbar gewordener Sinnversprechungen. Mit solchen nicht mehr zu rechnen, ist der Preis, den wir dafür zahlen müssen, in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit zu leben.“ Diesen Preis zu zahlen, sind möglicherweise viele nicht bereit. Die Säkularisation aber aufzugeben zugunsten von neuen metaphysischen Sinngebungen der Realität hieße die Erkenntnisse der Aufklärung zurückzuweisen und in eine dogmatische Kultur der Vergangenheit zurückzufallen.