Ludwig Marcuse und das Glück des Menschen

 

Karl-Heinz Hense

 

 

Im Unterschied zu seinem Namensvetter Herbert ist Ludwig Marcuse selbst Fachphilosophen kaum noch bekannt. Dabei ist seine individualistische, auf das irdische Glück und Unglück des Menschen gerichtete Philosophie hochaktuell.

 

Marcuse wird am 8. Februar 1894 in Berlin geboren und wächst in einem von Nationalismus und Humanismus geprägten, großbürgerlichen Elternhaus auf. 1913 beginnt er sein Philosophie-Studium in Berlin. Von Georg Simmels individualistischer Lebensphilosophie läßt er sich in besonderem Maße beeinflussen. 1917 promoviert er bei Ernst Troeltsch, dem späteren Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei, mit einer Arbeit über Friedrich Nietzsche.

 

1933 geht der atheistische Jude Marcuse zunächst ins französische, später ins amerikanische Exil und entkommt den Schergen der Nazis. Seine Schwester aber fällt ihnen in die Hände und wird im KZ ermordet. Von 1945 bis 1962 lehrt Marcuse als Philosophie-Professor an der University of Southern California in Los Angeles. Danach kehrt er nach Deutschland zurück. Er stirbt vor vierzig Jahren, am 2. August 1971, in Bad Wiessee.

 

Marcuse versteht sich ein Leben lang als deutscher Schriftsteller, den man seiner jüdischen Herkunft wegen 29 Jahre lang seines Sprach- und Wirkungskreises beraubt hat. Als er nach Deutschland zurückkehrt, bleibt er ein Unzeitgemäßer. Die allzu oberflächliche Orientierung an marxistischem Denken, die er zum Beispiel in den Theorien der Frankfurter Schule entdeckt, lehnt er rundweg ab. Seine kritische Haltung wird besonders deutlich in seiner Kontroverse mit Ernst Bloch, dessen Glauben an Stalin und dessen Rechtfertigung der stalinschen Mordprozesse er ihm niemals vergessen hat.

 

Es gibt im wesentlichen zwei Gründe, warum man Marcuse und dessen Werk auch nach dem Ende der Nazi-Zeit nicht entsprechend würdigte: Einerseits nahm die philosophische Fachdisziplin seine Bücher kaum zur Kenntnis, weil sie weder eine eigene Theorie entwickeln wollen noch sich nach wissenschaftlich-systematischen Regeln richten. Andererseits stellt Marcuse sich gegen den intellektuellen Zeitgeist, weil er sich keiner Schule zuordnen läßt und allen ideologischen Theorien gegenüber beharrlich die Ansprüche des Individuums, der „kleinen, verletzlichen Minderheit“ propagiert.

 

Marcuse hält zeitlebens Philosophie und Literatur für die beiden Seiten derselben Medaille. Das Werk August Strindbergs zum Beispiel versteht er als dichterische Ausformung von Nietzsches Individual- und Lebensphilosophie, die dem Menschen die Illusion metaphysischer Gewissheiten nehme und ihn dem unlösbaren Dilemma ausliefere, die Welt nicht mehr erklären zu können. Daraus entsteht die „tragische Disposition“ des modernen Menschen, einerseits nicht mehr auf „Erlösung“ hoffen zu können, andererseits aber „dennoch“ sein Glück finden zu wollen.

 

1949 erscheint sein berühmtestes Buch, „Die Philosophie des Glücks“. Darin beschäftigt er sich vor allem mit den vielen, ganz unterschiedlichen Glückssuchern der Menschheitsgeschichte und ihren ambitionierten Rezepten. Es folgt ein Buch, das den scheinbaren Antipoden des Glücks, den Pessimismus als zentrales Thema hat: „Pessimismus - ein Stadium der Reife“, das später mit dem Untertitel „Philosophie des Un-Glücks“ neu aufgelegt wird. Dabei ist für Marcuse die Glücksfähigkeit des Pessimisten nicht geringer als die optimistischer Weltbetrachter und selbsternannter Menschheitsbeglücker. Er hat sogar die Hoffnung, dass die Pessimisten die „Schöpfer eines neuen Humanismus“ werden könnten.

 

Weitere Bücher folgen. Er schreibt über Sigmund Freuds nüchterne wissenschaftliche Seelen-Analyse, in der er seine eigene skeptisch-nihilistische Grundhaltung wiederfindet. 1959 folgt seine Darstellung amerikanischen Philosophierens, die den deutschen Leser mit bis dahin allenfalls der Fachwelt geläufigen Grundrichtungen des amerikanischen Denkens vertraut macht – wiederum ohne wissenschaftlichen Anspruch, dafür aber für jedermann verständlich und zugleich brillant formuliert. Leitmotiv ist die Rätselhaftigkeit der Welt, denen die amerikanischen Philosophen auf unterschiedlichen Wegen beizukommen versuchen – nicht um sie zu beseitigen, sondern „um sie immer heller zu machen in ihrer Rätselhaftigkeit“.

 

Eines seiner wichtigsten Bücher erscheint 1964: „Aus den Papieren eines bejahrten Philosophie-Studenten“. Von den Vorsokratikern bis zu den Neu-Kantianern und den Neo-Positivisten zeichnet Marcuse darin die Geschichte abendländischen Denkens nach. Auch hier geht es ihm darum, die vielfältigen Versuche zu analysieren, die den Rätseln der menschlichen Existenz beikommen wollten, um am Ende doch wieder nur auf neue Rätsel zu stoßen, so daß alle Mühe zu einer unendlichen Kette von Sisyphos-Anstrengungen wird. Dabei ist, wie es Camus es formuliert hat, nicht zu vergessen, daß wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen.

 

Auf den ersten Blick fällt ein anderes Buch, das er 1962 veröffentlicht, aus dem Rahmen: „obszön – Geschichte einer Entrüstung“. Indem Marcuse den menschlichen Körper und seine Sexualität wieder in seine Rechte einsetzt und seine Bedeutung für das Glück des Menschen betont, setzt er damit seinen explizit irdischen Humanismus fort.

 

Marcuse lehnt es ab, Philosophie lediglich als ein gelehrtes System zu verstehen, das seinen Wert am Ende doch nur in sich selbst hätte. Auch hält er nichts von der Anwendung ideologischer Rezepte auf das Leben der Menschen. Er lehrt, daß es zwangsläufig zu Unterdrückung und Unfreiheit kommen muß, wenn eine bestimmte Meinung, Ideologie, Religion oder eine sonstige Dogmatik zum Maßstab menschlichen Verhaltens und Zusammenlebens wird. Der unterdrückte Mensch aber kann nicht glücklich sein. Das individuelle Glück findet der Einzelne nur in der freien Entscheidung zwischen möglichst vielen Optionen, ohne daß ihn eine solche Entscheidung freilich auf alle Lebenszeit determinieren müsste oder ihm gar Sicherheit geben könnte. Alle traditionellen Sicherheitstheorien sind mittlerweile als untaugliche Scheinlösungen enttarnt, alle metaphysischen Versuche der „Sinngebung des Sinnlosen“ endgültig gescheitert. Übrig bleiben einzig die Glücksmöglichkeiten, die menschlichem Maß entsprechen, die Mit-Freude und das Mit-Leiden.

 

Glück kann für Marcuse nur individuell empfunden werden, es besteht aus „Glücksmomenten“, aus einem „herrlichen Entschweben in die Sorglosigkeit“, das objektiv nicht darstellbar, allenfalls subjektiv nachzuvollziehen ist. Das individuell empfundene Glück hat zwei Ursachen, durch die es ausgelöst werden kann, die allerdings auch zusammenwirken können: Sinnliches, körperliches Glück, und geistiges Glück, das aus rationalem Denken entsteht, gleichwohl aber gefühlsmäßig erlebt wird. Neben dem individuellen spricht Marcuse vom sozialen Glück, von „Sozialeudämonismus“, der freilich nur Rahmenbedingungen für individuelles Glück aufzustellen imstande ist. Für Marcuse selbst (ohne daß er daraus ein Rezept machen würde) hat vollkommenes Glück eine mystische Qualität. Das sinnliche Glück des Augenblickt und das geistige als Resultat intellektueller Anstrengung hält er gleichermaßen für notwendige Bedingungen, Glück in einer Art Annäherung an seine Vollkommenheit zu erleben.

 

Für Marcuse durchläuft die jüngere Geschichte der westlichen Welt, die mit den Mythen des archaischen Altertums beginnt und vorerst mit dem tragischen Geschick der Moderne endet, drei in ihrer Zeitdauer unterschiedlich lange, sich gelegentlich regional überlappende, in ihrer Bedeutung jedoch vergleichbare Stadien: wie die drei Aufzüge einer klassischen Tragödie, auch wie ein dialektischer Dreischritt, führt sie vom gläubigen über den ungläubigen zum tragischen Menschen. Sein letzter und zugleich kostbarster Besitz ist die individuelle Glücksfähigkeit.

 

Marcuses Position kennzeichnet ein Aufbegehren gegen metaphysisch oder religiös begründete moralische Ansprüche an menschliches Verhalten. Der Einzelne hat das Recht, dagegen zu revoltieren. Die Erfahrung, daß trotz aller Anstrengungen immer wieder geistige Gebäude errichtet werden, die das Individuum überwölben und ihm seine Einzigartigkeit, seine Freiheit und damit auch sein Glück nehmen wollen, fordert zu ständiger Wachsamkeit und zu mutigem Widerspruch heraus. Denn alle Ideologie, auch wenn sie mit scheinbar noch so überzeugenden Glücksversprechen einherkommt, taugt letztlich doch nur dazu, den Menschen zu entmündigen. Es geht darum, den scheinbaren Lösungen der existenziellen Rätsel zu widerstehen und auf dem einzigartigen, nicht über einen intellektuellen Leisten zu schlagenden Glück des Menschen zu bestehen.