Die phantastischen Welten des René Magritte

 

Karl-Heinz Hense

 

 

Belgiens berühmtester moderner Maler, René Magritte, lebte von 1898 bis 1967 hauptsächlich in Brüssel. Zu seinem 100. Geburtstag hat ihm das Königliche Museum für Schöne Künste eine Ausstellung gewidmet, die als die bisher größte für und über seine Bilder und Arbeiten gilt. Sie war vom 6. März bis zum 28. Juni geöffnet, aber schon nach wenigen Tagen waren Karten nur noch unter großen Schwierigkeiten zu bekommen, bis die Ausstellung Anfang Mai ganz und gar ausverkauft war.

 

Es wurden ungefähr 300 Gemälde und Gouachen aus der Zeit von 1919 bis 1967 gezeigt, daneben viele Zeichnungen und Plakate sowie Beiträge für Zeitschriften und Entwürfe für Mode-Kataloge; des weiteren private Aufzeichnungen, Fotografien, Briefe und Postkarten. Magrittes künstlerisches Werk wird dem Surrealismus zugerechnet; indessen ist er keineswegs auf eine bestimmte technische Stilrichtung festzulegen. Vielmehr finden sich in seinem beachtlichen Oeuvre zum Beispiel kubistische, futuristische und impressionistische Phasen; außerdem verbinden sich in vielen Werken unterschiedliche Techniken zu einer neuen Einheit. Stets aber bilden sie Phänomene ab, denen mit rein rationaler Interpretation beikommen zu wollen die Kunst Magrittes zu vergewaltigen hieße.

 

„Meine Bilder werden als fühlbare Zeichen der Gedankenfreiheit geschaffen”, sagte der Maler 1954 über seine Kunst. Und betrachtet man die phantastischen, paradoxen Sujets: Schuhe, die zu Füßen werden, einen strahlend hellen Himmel über einer dunklen Nachtlandschaft, Felsmassive, die sich zu Adlerköpfen recken oder einen Apfel, der kein Apfel ist - so ahnt man, was Magritte mit dieser Gedankenfreiheit meint; jedenfalls nichts, was sich unserer herkömmlichen Logik und den geläufigen Gesetzen unserer Erfahrung erschlösse. Vielmehr steht scheinbar Gegensätzliches, Unverträgliches nebeneinander oder durchdringt sich gar, so daß eine andere, „surreale” Dimension unserer Wirklichkeit sichtbar wird, die wir normalerweise dem Zweckmäßigen und der gewohnten „Gebrauchs-Ästhetik” hintanstellen - wenn wir sie denn überhaupt noch wahrnehmen; allenfalls lassen wir die Welt des Surrealen für gewöhnlich als mehr oder weniger sympathische Spinnerei gewisser verschrobener („Möchtegern”-)Künstler gelten. Daß ein solches Potential unserer Gedankenfreiheit aber deshalb seine Faszination nicht verliert, eher im Gegenteil: desto stärker vermißt wird, je weniger wir es in unserem Alltagsleben nutzen, zeigt der immense Zulauf, den die Magritte-Ausstellung hatte.

 

Ich war jedenfalls aufs Neue gefesselt von vielen der ausgestellten Bilder, auch wenn ich sie vorher schon einige Male in anderen Ausstellungen oder in Katalogen gesehen hatte; und ich hoffe die Intentionen des Malers wenigstens in Ansätzen nachfühlen zu können: Wenn ich zum Beispiel das Gemälde „Die Spaziergänge des Euklid” betrachte, das eine Staffelei aus durchsichtigem Glas vor einem großen Fenster zeigt, hinter dem sich eine Stadt ausbreitet mit geometrischen Formen und winzigen Figuren, von denen man nicht weiß, ob sie Bestandteil einer fiktiven oder realen, einer surrealen oder, im herkömmlichen Sinne, existenten Wirklichkeit sind; oder als ich vor dem Bild „Die schwarze Magie” stand, das einen formvollendeten weiblichen Akt zeigt, der in phantastischen Farben changiert.

 

Magritte hat nicht nur als Maler gearbeitet, er hat sich in Paris an Aktionen der Dadaisten beteiligt, hat belgische Kunstzeitschriften gegründet oder mitherausgegeben, Plakate für Veranstaltungen und für die Produktwerbung angefertigt sowie Kataloge für Mode-Kollektionen gestaltet und sogar in einer Tapetenfabrik als Motiv-Zeichner gearbeitet. Schließlich hat er sich auch als Schmalfilmregisseur und -darsteller betätigt; man konnte seine Filme in einem Saal der Ausstellung ansehen, und es ist ganz erstaunlich, wieviel von dem Paradoxen und Surrealen seiner Bilder sich in diesem ja ganz anders zu bearbeitenden Medium wiederfindet.

 

Die Kunstkritiker mochte Magritte nicht besonders; die meisten von ihnen hielt er schlicht für unfähig, zu begreifen, was sie sahen. Im März 1966 schrieb er an André Bosmans: „... Was Sie mir von überraschenden Deutungen meiner Bilder berichten, ist sehr bezeichnend für eine mir völlig fremde Geisteshaltung. Zu solchen Irrtümern kommt es, weil, wie ich glaube, viele Leute unfähig sind, mit den Augen zu denken: Ihre Augen sehen etwas, und ihr Denken ist blind; sie verbrämen das Gesehene mit den ‘Ideen’, die ihnen ‘interessant’ erscheinen. Diese Leute können nur in Ideen, in Begriffen und nicht mit den Augen denken. Und erfahren darum auch nichts von dem Mysterium, dem nur ein solches Denken sich nähern kann.”

 

Es mag sein, daß wir mehr als dreißig Jahre später noch weiter abgerückt sind von jener Fähigkeit, um die es dem Künstler geht; denn unsere Welt ist immer zweckrationaler und technischer geworden. Welche phantastischen Wirklichkeiten wir dadurch vernachlässigen oder gar nicht erst kennenlernen, zeigt uns das Oeuvre von René Magritte.