Vom „mühseligen Weg des ordnungsgemäßen Denkens“ – Rudolf Virchow in memoriam

 

Karl-Heinz Hense

 

 

„Lernen wir, bevor wir uns Gedanken über ein Deutsches Historisches Museum machen, erst einmal jene Frauen und Männer und ihre Werke kennen, die, wiewohl unzeitgemäß, unserer Geschichte Würde und humane Prägekraft gaben.“ – Das sind die Worte von Walter Jens aus den 1980er Jahren, als er in der ZEIT sein „republikanisches Journal“ veröffentlichte. Es geht dabei um den gegen Ende des 19. Jahrhunderts weltberühmten Arzt und Politiker Rudolf Virchow. Aus einer seiner Reichstagsreden zitiert Jens dessen Ansicht, „daß eine im medizinischen Sinn gesunde Gesellschaft nur durch radikale Demokratisierung des Gemeinwesens – und zwar vor allem eine ökonomische – erreichbar sei.“ Wer war dieser Mann, der es wagte, nach dem Jahre 1880, als die Sozialisten durch Bismarcks „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ schon seit zwei Jahren aus dem deutschen Parlament verbannt waren, solch aufrührerische Töne anzuschlagen?  

 

Heute ist der Name Virchow zwar noch in weiten Kreisen bekannt – vor allem die Berliner verbinden damit sein Wirken an der Charité, dem traditionsreichen Krankenhaus und Ort medizinischer Forschung -, daß es sich bei ihm aber nicht nur um einen weltberühmten Arzt und Gelehrten handelt, sondern zugleich um einen engagierten radikaldemokratischen Politiker in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, dem Preußischen Landtag und schließlich dem Deutschen Reichstag, wissen wohl nur noch Eingeweihte. Es gibt einige informative und verdienstvolle Bücher über ihn, vor allem die Biografien von Erwin Ackerknecht, Manfred Vasold, Heinrich Schipperges und Constantin Goschler, auch werden derzeit in einer unfangreichen Edition, die auf mehr als sechzig (!) Bände projektiert ist, von Christian Andree seine Sämtlichen Werke, auch die politischen Reden und Texte, herausgegeben – gleichwohl findet Virchows politisches Wirken kaum noch irgendwo einen angemessenen Nachhall. Ackerknecht schreibt über ihn: „Sein unermüdlicher und aktiver Sinn für die staatsbürgerliche Verantwortung erhebt Virchow über die meisten großen Wissenschaftler und gibt seinem politischen Beitrag Bedeutung.“ – Grund genug, an den unermüdlichen Kämpfer für den sozialen Fortschritt und eine demokratische Kultur zu erinnern.

 

Rudolf Virchow wird am 13. Oktober 1821 im pommerschen Schivelbein geboren. Er stammt aus kleinen Verhältnissen. Sein Vater ist kurze Zeit Stadtkämmerer, ernährt die Familie dann aber vor allem durch landwirtschaftliche Arbeit. Schon auf dem  Gymnasium im benachbarten Köslin zeigt sich die besondere Begabung des Sohnes, aber auch sein ausgeprägter Ehrgeiz und das politische Interesse. Die „allgemeine Kenntnis der Natur von der Gottheit bis zum Stein“ strebe er an, so läßt er seine Lehrer wissen. Schon bald steht für ihn fest, daß er Medizin studieren und Arzt werden will. Zur Reifeprüfung legt er einen Deutschaufsatz vor, der den programmatischen Titel trägt: „Ein Leben voll Arbeit und Mühe ist keine Last, sondern eine Wohltat.“

 

Sein Studium beginnt Virchow 1839 in Berlin mit der Ausbildung zum Militärarzt. Schon 1843, noch vor seiner Promotion, wird er als medizinischer Assistent an die Charité geschickt, an ein für die damalige Zeit modern ausgestattetes Krankenhaus. Dort durchläuft er alle Abteilungen und bekommt einen gründlichen Einblick in alle Arten von Krankheiten und Heilmethoden. Daß ihn aber nicht nur sein Fachstudium beschäftigt, zeigt sich, als er anlässlich seiner Dissertation die These verteidigt „Nur der liberale Geist kann Einblick in die Natur der Medizin gewinnen.“ Es folgen bald einige Vorträge, in denen der junge Gelehrte Partei nimmt für die „Medicin vom mechanistischen Standpunkt“ aus und gegen die damals noch vorherrschende Naturphilosophie im Geiste Schellings und Hegels. Heinrich Schipperges schreibt dazu: „Was Virchow dagegensetzte, war nicht weniger als eine extreme Grundlegung der Medizin auf die allein verbindlichen Gesetze der Mechanik und der Physik, war ein leidenschaftliches Bekenntnis zu jener naturwissenschaftlichen Methode, die das Menschliche im Menschen für souverän und die Erde für den Himmel des Menschen erklärt hat.“ Bei diesem Bekenntnis bleibt Virchow sein Leben lang. Mit der Medizin als Naturwissenschaft beginnt eine neue Epoche, die das Bild des barmherzig heilenden Arztes durch das des kritischen Wissenschaftlers ablöst.

 

Virchow habilitiert sich 1847, im gleichen Jahr wechselt er in der Charité von der Chirurgie zur Prosektur. Um den neuen Weg, den er in der Medizin einzuschlagen gedenkt, zu beschreiben, gründet er eine Fachzeitschrift, die er bis zu seinem Lebensende in insgesamt 169 Bänden herausgibt: „Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin“, bekannt geworden als „Virchows Archiv“. Die steile Karriere des hochbegabten Mediziners scheint vorgezeichnet, dann aber drängen politische Ereignisse in den Vordergrund.

 

Virchow hatte Anfang 1848 die Ursachen und Folgen einer Flecktyphus-Epidemie in Oberschlesien vor Ort untersucht. Sein Bericht darüber – der Schriftsteller Arnold Bauer nennt ihn die „Magna Charta der deutschen Sozialhygiene“ – ist von revolutionärer Qualität. Um den „künstlichen Seuchen“ vorzubeugen und das „Recht auf Gesundheit“ durchzusetzen, fordert Virchow „volle und unumschränkte Demokratie“ sowie eine allgemeine „Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“. Die in Schlesien vorgefundenen, skandalösen sozialen Verhältnisse macht er für Krankheit und Elend der Menschen verantwortlich und mit ihnen das Verhalten und das Selbstverständnis der Herrschenden: „Mehr als in irgendeinem Teile der östlichen Provinzen findet sich in Oberschlesien eine Aristokratie mit ungeheurem Grundbesitz, und mehr als in irgendeinem Teile von Preußen überhaupt hält sich diese Aristokratie fern von ihren Besitzungen in den Hauptstädten Breslau, Wien, Berlin oder außerhalb Deutschlands [auf], verschwendet ein großer Teil dieser Aristokratie ungeheure Geldsummen, die fort und fort dem Lande entzogen werden. Nunmehr aber soll eine Entwicklung des Wohlstandes in einem Lande kommen, welches immer nur den Ertrag seiner Tätigkeit nach außen abgibt?“ - Die Obrigkeit ist verstimmt ob solch radikaler Anklage. Als der inzwischen über die Grenzen Berlins hinaus bekannte Arzt sich auch noch an den revolutionären Barrikadenkämpfen der gegen die feudale Herrschaft sich erhebenden Bürgerschaft beteiligt, soll seiner Karriere ein nachhaltiges Ende gesetzt werden. Virchow aber bleibt trotz allem bei seinem Bekenntnis zur Republik: „Als Naturforscher kann ich nur Republikaner sein; denn die Verwirklichung der Forderungen, welche die Naturgesetze bedingen, welche aus der Natur des Menschen hervorgehen, ist nur in der republikanischen Staatsform wirklich ausführbar.“ Folgerichtig wird er Mitglied des Demokratischen Kongresses in Berlin. In seiner Zeitschrift „Die medicinische Reform“, die 1848 nur ein Jahr lang erscheinen kann, schreibt Virchow: „Die Ärzte sind die natürlichen Anwälte der Armen, und die soziale Frage fällt zu einem erheblichen Teil in ihre Jurisdiktion.“

 

Die Aufsichtsbehörde reagiert prompt. Nach der Niederlage der 48er Revolution wird Virchows Gehalt gekürzt, seine Dienstwohnung wird gekündigt. Weiterer Maßregelung entgeht er freilich durch einen Ruf an die Universität Würzburg. Dort lehrt und forscht er von November 1849 bis Oktober 1856. Das politische Engagement tritt nun in den Hintergrund, Virchow beschäftigt sich neben seinen Lehrveranstaltungen vor allem mit den Vorarbeiten für eine neue Krankheitslehre, der er den Namen „Cellularpathologie“ gibt und die seine wissenschaftliche Reputation weltweit begründen wird. Auch äußerlich gibt Virchow, obschon noch jung an Jahren, nun das Bild eines vergeistigten, aber strengen Gelehrten ab, das sein Assistent Carl Ludwig Schleich wie folgt beschreibt: Einen „kleinen, gelbhäutigen, eulengesichtigen, bebrillten Mann mit dem eigentümlich stechenden und doch leicht verschleierten Auge, an dem die Armut von Wimpern auffiel. Die Augenlider waren papierdünn, wie pergamenten. Sehr fein geschnitten war die Nase, die den Stolz ihres Trägers in zwei sehr graziös geschweifte Nüstern, die leicht beim Sprechen wie halb hohnvoll zitterten, bekundeten. Schmale, blutlose Lippen, nicht allzu üppiger grauer Vollbart.“

 

1856 wird Virchow an die Universität Berlin zurück berufen, als Direktor des für ihn neu errichteten Pathologischen Instituts. Knapp zwei Jahre später erscheint sein alsbald weltbekanntes Werk „Die Cellularpathologie“. Als das „letzte eigentliche Form-Element aller lebendigen Erscheinungen“ sieht Virchow die Zelle an. Der lebendige Körper kommt für ihn „immer auf eine Art von gesellschaftlicher Einrichtung“ heraus, „eine Einrichtung sozialer Art, wo eine Masse von einzelnen Existenzen aufeinander angewiesen ist, aber so, daß jedes Element für sich eine besondere Tätigkeit hat und daß jedes, wenn es auch die Anregung zu seiner Tätigkeit von anderen Teilen her empfängt, doch die eigentliche Leistung von sich ausgehen läßt.“

 

Solche Sätze klingen wie eine politische Erklärung der liberalen Demokratie. Und es ist gewiß nicht zu weit her geholt, wenn man davon ausgeht, daß Virchow seine medizinischen Erkenntnisse wenigstens in Teilen auf das Politische und Soziale überträgt. Der zellulare Aufbau des menschlichen Körpers und seine Funktionen sind für ihn ein Modell für den gesunden und kranken Staatskörper. „Politik“, so schreibt er folgerichtig, „ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Und dieser Form von Medizin widmet sich der Gelehrte von nun an neben der fortdauernden, einen zehnstündigen Arbeitstag in Anspruch nehmenden Arbeit als Arzt und Professor. 1859 wird er in den Berliner Stadtrat gewählt, dem er bis zu seinem Tode angehören wird, im gleichen Jahr gehört er zu den Mitgliedern des „Deutschen Nationalvereins“, der eine kleindeutsche Einigung und ein Nationalparlament anstrebt. Vor allem aber übernimmt Virchow in der Berliner Stadtverordnetenversammlung eine Fülle an Aufgaben und macht sich insbesondere durch die Errichtung eines modernen Kanalisationssystems einen über die Grenzen Berlins hinaus weisenden Namen.

 

Im Jahre 1861 gehört Rudolf Virchow zu den Gründern der ersten deutschen Partei. Sie gibt sich den Namen „Deutsche Fortschrittspartei“ und vereinigt Liberale und Demokraten unter ihrem Dach, die vor allem eine Demokratisierung Preußens sowie Freiheit und Einheit für ganz Deutschland anstreben. Virchow wird für die Fortschrittspartei im selben Jahr in den Preußischen Landtag gewählt, wo er dem am 24. September 1862 ernannten Ministerpräsidenten Otto von Bismarck gegenüber steht. Hier nun begegnen sich zwei Männer, deren Charaktere, aber vor allem ihr Verständnis von Aufgabe und Verfahren in der Politik, stark kontrastieren. Virchow hält den autoritären Politiker Bismarck für einen Mann, der „ohne einen Kompaß in das Meer der äußeren Verwicklungen hinausstürmt“, einen Politiker, dem „jedes leitende Prinzip“ fehle und der keinerlei „Verständnis für ein nationales Wesen“ habe, dafür, „was aus dem Herzen des Volkes hervorgeht“. Bismarck hingegen hält Virchow für einen „unzünftigen“ Politiker, der nicht einsehen könne, daß Politik eben „keine exakte Wissenschaft“ sei, und dem daher „jedes Verständnis für Politik“ fehle. „Die Politik scheidet die Nationen, die Wissenschaft verbindet die Nationen“, hält Virchow dem entgegen. - Die grundverschiedene Haltung der beiden kommt aber vor allem darin zum Ausdruck, daß der Kriegsgegner Virchow auf Parlamentarismus und diplomatische Verständigung sowohl im Innern wie nach außen setzt, während der preußische Junker einer kompromisslosen Machtpolitik anhängt, die er in einem berühmten Diktum folgendermaßen beschreibt: „Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; … nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen -, sondern durch Eisen und Blut.“

 

Es kann nicht ausbleiben, daß die Konkurrenz der beiden Männer alsbald die Debatten im Landtag prägt. Vor allem im sogenannten Preußischen Verfassungskonflikt prallen ihre unterschiedlichen Vorstellungen unversöhnlich aufeinander. Bismarck hatte wegen einer beabsichtigten Erhöhung des Wehretats dem Parlament mehrfach sein Budgetrecht bestritten, hatte den Landtag auflösen lassen, als man seinen Vorlagen die Zustimmung verweigerte und den Haushalt ohne parlamentarische Ermächtigung in Kraft gesetzt. In einer der darüber entbrannten Debatten wirft Virchow ihm 1865 mangelnde Wahrheitsliebe vor, was den tief getroffenen Ministerpräsidenten veranlasst, seinem Kontrahenten eine Duell-Forderung auf Pistolen überbringen zu lassen. Virchow lehnt ab, weil er ein Duell für eine überholte und unangemessene Form der Auseinandersetzung halte. Der Kriegsminister von Roon kann die Angelegenheit schließlich schlichten, das Duell kommt nicht zustande, die gegenseitige Abneigung der beiden aber bleibt unverändert bestehen. Noch 1890, als Bismarck von Wilhelm II. aus seinem Amt gedrängt wird, kommentiert Virchow dies mit den Worten: „Die Enthebung des Fürsten ist eine Vorbedingung für die Genesung des Volksgeistes.“

 

Sowohl im Preußischen Landtag als auch im Deutschen Reichstag, dem Virchow von 1880 bis 1893 angehört, geraten beide immer wieder aneinander. Als Bismarck aufgrund der preußischen Siege in den Kriegen 1864 gegen Dänemark und vor allem 1866 gegen Österreich und wegen des Zusammenschlusses deutscher Staaten im Norddeutschen Bund vom Landtag „Indemnität“, also Straffreiheit im Bezug auf seine ungesetzlichen Budget-Maßnahmen verlangt, gehört Virchow zu den Abgeordneten, die ihm diese verweigern. Ein großer Teil seiner Parteifreunde aber schwenkt nun, unter dem Eindruck der preußischen Kriegserfolge, zu den Positionen Bismarcks über und spaltet sich von der Fortschrittspartei ab. 1867 wird die „Nationalliberale Partei“ gegründet, die fortan als Mehrheitsbeschafferin für die Politik des Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzlers fungiert. Virchow freilich bleibt dem demokratischen Fortschritt treu.

 

Es gibt und gab wenige Stimmen in Politik und Wissenschaft, die den Positionen Virchows und seiner grundsätzlichen Ablehnung Bismarckscher Machtpolitik in dieser Entschiedenheit zustimmen. Meist wurde und wird nicht nur in Deutschland die Politik des „Eisernen Kanzlers“ per saldo nicht nur gut geheißen, sondern gar bewundert. Selbst der militante 48er Friedrich Hecker, der vor der preußischen Soldateska nach Amerika fliehen muß, wandelt sich nach 1866 zu einem Bewunderer Bismarcks, dem es zu verdanken sei, daß Deutschland geeint wurde. Auch Theodor Heuss stimmt in diesen Kanon ein. In einem Porträt des radikalen Demokraten Virchow bezeichnet Heuss ihn als „einen hitzigen Gegner von Bismarcks verschlungener Außenpolitik, die er nicht durchschaute“. Wenige sehen klar wie Virchows Parteifreund, der große Historiker und Literatur-Nobelpreisträger Theodor Mommsen, wenn er schreibt, daß der „Schaden“ Bismarckscher Politik für die Deutschen am Ende „unendlich viel größer“ gewesen sei „als ihr Nutzen“. Mommsen gehört 1866 zu den Liberalen, die sich zu Bismarcks Unterstützern wandeln, nun, nach der Ära Bismarck, schreibt er: „Die Gewinne an Macht waren Werte, die bei dem nächsten Sturm der Weltgeschichte wieder verlorengehen; aber die Knechtung der deutschen Persönlichkeit, des deutschen Geistes, war ein Verhängnis, das nicht mehr gutgemacht werden kann.“ – Prophetische Worte, so scheint es. Der Historiker Hans Kohn hat dem in seinem Buch „Wege und Irrwege – Vom Geist des deutschen Bürgertums“ die Argumente hinzugefügt, aus denen ersichtlich wird, daß die Politik Bismarcks mitverantwortlich ist für eine deutsche Hybris, die in die Katastrophe zweier Weltkriege führt.

 

Betrachtet man die tiefgreifende Gegnerschaft Virchows zu Bismarck und liest man vor allem die sozialpolitischen Schriften und Reden des demokratischen Politikers, so kann man den Eindruck gewinnen, es handle sich um den Kampf eines Sozialisten gegen den obersten Repräsentanten einer reaktionären preußischen Bourgeoisie; wenn es zum Beispiel heißt: „Die Erde bringt viel mehr Nahrung hervor als die Menschen verbrauchen; das Interesse der Menschheit erfordert es keineswegs, daß durch unsinnige Aufhäufung von Kapital und Grundbesitz in den Händen einzelner die Produktion in Kanäle abgeleitet wird, welche den Gewinn immer wieder in dieselben Hände zurückfließen lassen.“ - Ein Satz, der auch von Karl Marx stammen könnte. Und tatsächlich äußert sich Virchow zu sozialistischen Gedanken gelegentlich positiv, den Kommunismus aber lehnt er stets strikt ab. Indessen bleibt er doch auf Distanz zu der politischen Linken. Er ist ein skeptischer Freigeist, den für ideologische Theorien und kollektivistisches Denken zu gewinnen auch Friedrich Engels für aussichtslos hält. Es sei wohl unmöglich, so schreibt er 1868 an Marx, „Virchow zum Kommunisten zu machen“, auch wenn er ein Interesse am Ökonomischen haben möge, so sei „dieser brave Bürger doch viel zu tief engagiert“.

 

Es gibt eine Fülle an politischen Themen, zu denen Virchow eine fundamental andere Position einnimmt als die preußische Regierung und später als die Mehrheit im Reichstag. 1869, als sich der Konflikt mit Frankreich zuzuspitzen beginnt, verlangt er im Landtag eine allgemeine europäische Entwaffnung anstelle von immer neuen Rüstungsanstrengungen. Wie in diesem Falle, so können die Demokraten der Fortschrittspartei auch in anderen Bereichen kaum Erfolge verzeichnen, Bismarck versteht es virtuos, sich stets eine Mehrheit in den Parlamenten zu sichern. Forderungen nach der Abschaffung des nach der Steuerleistung gewichteten Drei-Klassen-Wahlrechts in Preußen, nach Abschaffung der Todesstrafe und nach Entkriminalisierung von Homosexualität stehen auf dem Programm Virchows und der Demokraten, jedoch fehlt jede Aussicht, sie durchsetzen zu können. Immerhin wird im Jahre 1876 eine der von Virchow immer wieder erhobenen Forderungen realisiert und ein Reichsgesundheitsamt eingerichtet mit dem Ziel, die Grundlagen für die Volksgesundheit zu überwachen. Außerdem kann Virchow 1877 dafür sorgen, daß in Preußen die Trichinenschau bei Schweinefleisch gesetzlich vorgeschrieben und damit der zunehmenden Verseuchung gegengesteuert wird.

 

Im Jahre 1872, als Bismarck nach dem Sieg über Frankreich und der Inthronisierung Wilhelms I. als Kaiser des Deutschen Reiches auf dem Höhepunkt seiner Macht ist, kommt es mit Virchows Partei zu gemeinsamen politischen Maßnahmen. Schon 1848, in seinem Bericht über den Schlesischen „Hungertyphus“, hat Virchow nicht nur den staatlichen Behörden, sondern auch kirchlichen Institutionen die Schuld an den katastrophalen sozialen Zuständen gegeben, die für die Verbreitung des Typhus verantwortlich wären. 1852 reist er in den Spessart, um die Ursachen für die Hungersnot der Bewohner zu erkunden. Auch hier macht er die „katholische Hierarchie“ mit dafür verantwortlich, daß anstelle von „Bildung, Wohlstand und Freiheit“ ein elender Hungerzustand herrsche, der als Prädisposition mannigfacher Krankheiten gelten müsse.

 

Seit im Jahre 1864 Papst Pius IX. in der Enzyklika „Quanta Cura“ Religions- und Meinungsfreiheit zurückgewiesen und gefordert hatte, daß alle weltlichen Herrscher sich der alleinigen Jurisdiktion der Kirche zu unterwerfen hätten, drängen nicht nur die Demokraten voller Empörung auf eine stärkere Trennung von Kirche und Staat. Bismarck kommt diese Stimmung durchaus entgegen, führt er doch eine Entmachtung der katholischen Kirche zugunsten eines protestantisch geprägten Preußen im Sinn. Nachdem das Erste Vatikanische Konzil 1870 nun gar die Unfehlbarkeit des Papstes verkündet, geht man gemeinsam ans Werk, um Gesetze zu schaffen, die den Einfluß der Kirche auf öffentliche Angelegenheiten so weit als möglich zurückdrängen. Für die Maßnahmen in diesem Bereich wird der Begriff „Kulturkampf“ prägend. Bismarck gibt Virchow als den Erfinder dieses Begriffes aus.

 

Dem Freisinnigen freilich geht es nicht nur um die Macht und die Privilegien der Kirchen, ihm ist jegliche Institution, die den Anspruch absoluter Wahrheit stellt, grundsätzlich suspekt. Die Abneigung gegen jede dogmatische Ideologie und Religion sowie die Forderung individueller Autonomie, geschult an der Philosophie des großen Immanuel Kant, gehören zum Kernbestand Virchowscher Überzeugungen. 1873 erklärt er dazu im Landtag: „Auch für uns ist das Individuum kein zufälliges, kein plan- und zweckloses Ding; auch wir sind der Überzeugung, daß das Individuum seine Existenz … ewigen Gesetzen verdankt, daß diese Gesetze nicht entstanden sind durch irgendeinen beliebigen Zufall; auch wir glauben daran, daß es eine allgemeine Ordnung gibt; aber wir sind allerdings nicht überzeugt, daß irgendein Sterblicher diese Ordnung zu durchschauen imstande ist.“ Für den Wissenschaftler Virchow ist jedweder Anspruch, im Besitze vollkommener Erkenntnis der Wahrheit zu sein, ob von religiöser oder politischer Seite, völlig unerträglich. Ihn deshalb als Agnostiker zu bezeichnen, geht vielleicht zu weit. Jedenfalls aber ist er zutiefst skeptisch, was die Fähigkeit der Menschen betrifft, Gewissheit über die Dinge in der Welt zu erlangen.

 

Der Kulturkampf indessen führt eher zur Niederlage Bismarcks und seiner Unterstützer. Die katholische Bevölkerung Preußens, repräsentiert in der Zentrums-Partei, widersetzt sich den politischen Maßnahmen, so daß viele Gesetze und Verordnungen später zurückgenommen werden müssen. Virchow wird seither gelegentlich vorgeworfen, daß er sich zum Büttel einer Politik habe machen lassen, die eine Minderheit, die Katholiken nämlich, bekämpft habe, statt ihr Minderheitenrechte einzuräumen, wie es eine tolerante liberale Programmatik eigentlich verlange. So gesehen ist der Kulturkampf gewiß kein Ruhmesblatt für die Demokraten, am Ende freilich bleiben einige wichtige Kompetenzen beim säkularen Staat, die den Kirchen (auch der protestantischen) abgerungen wurden, darunter die Zuständigkeit für das Bildungssystem und das Institut der Zivilehe. Der ebenfalls im Kulturkampf beschlossene „Kanzelparagraph“, der es den Kirchen verbietet, politische Agitation von der Kanzel aus zu betreiben, wird erst 1953 vom Deutschen Bundestag aufgehoben.

 

Die diametral unterschiedlichen politischen Auffassungen zwischen Virchow und Bismarck werden aber rasch wieder deutlich, als es dem Kanzler 1878 um das Verbot sozialistischer und sozialdemokratischer Institutionen geht, weil ihm die Linke zunehmend eine Gefahr für die feudale Gesellschaftsordnung in Deutschland zu werden scheint. Ein fehlgeschlagenes Attentat auf den Kaiser nimmt Bismarck zum Anlaß, das „Sozialistengesetz“ verabschieden zu lassen. Die Demokraten um Virchow stimmen dagegen, obwohl es dem einen oder anderen, auch ihrem Vorsitzenden Eugen Richter, nicht unbedingt unsympathisch ist, daß die Sozialisten nun um ihren Einfluß gebracht werden sollen. Ein fataler Irrtum, wie man nach Aufhebung des Gesetzes 1890 feststellen muß, als die Sozialdemokraten mit fast 20 Prozent der Wählerstimmen in den Reichstag einziehen.

 

In den 1880er Jahren steht ein weiteres politisches Streitthema im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Mehrheit des Volkes und mit ihr die Mehrheit im Reichstag fordert neue Kolonien für das Reich. Virchow und die Fraktion der „Deutsch-Freisinnigen Partei“, wie sich die Demokraten nun, nach einigen Abspaltungen und Rückkehrern aus dem nationalliberalen Lager, nennen, sprechen sich dezidiert gegen den Erwerb neuer Kolonien aus. Nicht nur weil sie meinen, es werde ein finanzielles Desaster daraus erwachsen, sondern vor allem weil sie die Kolonisierung für eine Versklavung fremder Völker und überdies für eine riskante Aktion halten, die von anderen Kolonialmächten, vor allem von den Engländern, für einen politischen Affront angesehen würde.

 

Eine besonders pikante Note bekommt die Diskussion um deutsche Kolonien durch die Absicht konservativer Kreise in der Umgebung Bismarcks, unliebsame Sozialisten aus Deutschland zu vertreiben und sie in die Kolonien umzusiedeln. Virchow wendet sich in aller Schärfe gegen solche Überlegungen, sie widersprechen seinen Vorstellungen von Humanität in gleichem Maße wie der zunehmende Rassismus in Deutschland, der sich nicht nur gegen die Juden richtet, sondern auch gegen fremde Volksgruppen, zum Beispiel die Polen in den preußischen Ostgebieten. Die Abneigung des Kanzlers gegen die Polen ist bekannt. Schon 1861 schreibt er: „… aber wir können, wenn wir bestehen wollen, nichts anderes tun, als sie [die Polen] auszurotten; der Wolf kann auch nichts dafür, daß er von Gott geschaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür tot, wenn man kann.“ Um so entschiedener nimmt Virchow Partei gegen jeglichen Rassismus und warnt davor, den Wert eines Menschen von seiner Rasse abzuleiten: „Sicherlich wird aber niemand behaupten dürfen, daß unter den lebenden Rassen eine einzige wäre, welche nicht als eine vollmenschliche angesehen werden müsste.“

 

Als Virchow sich 1880 in den Reichstag wählen läßt – ein Mandat, das er neben seiner Landtagszugehörigkeit und seiner Tätigkeit als Berliner Stadtverordneter ausübt -, müssen ihn Parteifreunde zu einer Kandidatur überreden. Es scheint, als sei ihm der alte rebellische Schwung abhanden gekommen und als hätte er in mancher Hinsicht resigniert. Mit der Monarchie scheint er seinen Frieden gemacht zu haben, jedenfalls akzeptiert er das Regiment Wilhelms I. und strebt nicht mehr danach, eine Republik zu errichten. Neben sein politisches Engagement, vielleicht als Kompensation des Verzichtes auf radikaldemokratische Ziele, treten neue wissenschaftliche Interessen. Virchow stellt seine medizinische Arbeit in einen größeren Zusammenhang und wendet sich einer allgemeinen Wissenschaftstheorie zu, einer „das gesamte menschliche Wesen umfassenden Anthropologie“ als Erfahrungswissenschaft vom Menschen, vom gesunden wie vom kranken. Später sagt er dazu: „Wir kämpften gegen die aprioristische Spekulation, wir verwarfen die Systeme, wir stellten uns ganz auf die Erfahrung.“ Zur Medizin im engeren Sinne gesellt sich nun die Erforschung sozialer Entwicklungen und Zusammenhänge. Grundlegende Überzeugung Virchows bleibt dabei: Das Gesetz der Natur „vollzieht sich in mechanischer Art auf dem Wege der Kausalität und der Notwendigkeit.“ Zugleich aktiviert er sein seit langem gehegtes Interesse an der Ethnologie und der Altertumswissenschaft. Seinen Freund Heinrich Schliemann begleitet er auf Ausgrabungsreisen nach Ägypten und in den Vorderen Orient, und er vermittelt ihm die Möglichkeit, seine trojanische Sammlung im Berliner Museum unterzubringen. Schon 1869 hat Virchow die „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ begründet, deren Vorsitzender er lange Zeit ist. Aus seinen Beiträgen in ihren Zeitschriften und seinen Reden auf Kongressen, in denen er seine „Schlachten für die Humanität“ schlägt, ist abzulesen, daß er auch auf diesem Gebiet Bedeutendes zu leisten imstande ist, wenn auch sein Ruhm als Arzt und Mediziner weltweit all seine anderen Aktivitäten überstrahlt.   

 

Zwei weitere Themen drängen in den 1880er Jahren in den Diskurs der medizinischen Öffentlichkeit: Robert Kochs Entdeckungen zur Bakteriologie und Charles Darwins Evolutionslehre. Mit beiden Themen befaßt Virchow sich intensiv. Er erkennt schnell ihre überragende Bedeutung, äußert sich dazu aber eher skeptisch und zögerlich. In der Öffentlichkeit entsteht der Eindruck, als wolle Virchow die revolutionär neuen Entdeckungen gar zurückweisen. Allerdings ist eher das Gegenteil der Fall. Es gibt es eine Fülle anerkennender Äußerungen Virchows zu beiden Themen, die seinen Respekt vor der Leistung der Kollegen bekunden - wenn die Entdeckungen Kochs von den Bakterien als Krankheitserregern die Cellularpathologie Virchows auch in gewisser Hinsicht relativieren mögen. Vor einer Versuchung allerdings warnt Virchow immer wieder: aus einzelnen Entdeckungen dogmatische Gebäude der Erkenntnis zu zimmern. Man dürfe nicht, so schreibt er, aus einer bloßen Formel „eine zusammenhängende Weltanschauung machen“. Und weiter: „Haltet das nicht für feststehende Wahrheit, seid darauf vorbereitet, daß es vielleicht anders werde; nur für den Augenblick haben wir die Meinung, es könnte so sein.“ Diese von Immanuel Kant inspirierten Sätze könnte ein Karl Popper geschrieben haben. Die Poppersche Position kritischer Rationalität hat Virchow anscheinend schon Jahrzehnte zuvor eingenommen. Fundamental bleibt dabei für den als „Materialisten“ geziehenen Wissenschaftler das emphatische Bekenntnis zum Schillerschen Freiheitsethos.

 

1892 wird Virchow Rektor der Berliner Universität. Sein weltweiter Ruhm steigt unaufhaltsam. Bei Vorträgen im Ausland, in England so gut wie in Russland, Frankreich und anderswo, erlebt der Gelehrte wahre Begeisterungsstürme. Und auch in Deutschland wird er nun von weiten Teilen der Bevölkerung verehrt. Rudolf Thiel hat in sein Buch mit dem reißerisch anmutenden, in der Sache aber zutreffenden Titel „Männer gegen Tod und Teufel – Aus dem Leben großer Ärzte“ ein populärwissenschaftliches, gleichwohl informatives und präzises Porträt des großen Pathologen aufgenommen. Dort heißt es: „Und als ob der Volksmund mit der Ärztewelt im Einklang wäre über sein [Virchows] geheimes Herrschertum in der Medizin, nennt er den Neubau seines pathologischen Museums die ‚Kaiser-Virchow-Gedächtniskirche.’“

 

Rudolf Virchow stirbt am 5. September 1902 an den Folgen eines Sturzes, den er beim leichtsinnigen Absprung aus einer Straßenbahn erleidet und bei dem er sich den Oberschenkelhals bricht. Im Jahre 1910 wird in der Nähe der Charité, am Karlplatz in Berlin, ein Denkmal für ihn enthüllt. Es zeigt über einem Porträt des großen Arztes den Kampf eines Titanen mit der Sphinx. Über Virchows Fülle an Verdiensten schreibt sein langjähriger Parteifreund und Führer der Linksliberalen im Kaiserreich, Eugen Richter: „Wir sehen ihn ja unter uns, wie er leibt und lebt, aber in künftigen Zeitläuften und Jahrhunderten wird man nicht begreifen können, daß ein einziger Mann so Hervorragendes auf den verschiedensten Gebieten geleistet hat. Da wird sich die Sage verbreiten, Virchow sei um die Wende des 20. Jahrhunderts kein einzelner Mensch gewesen, sondern Virchow sei ein Sammelname gewesen für eine Reihe hervorragender Zeitgenossen und Altersgenossen, die auf den verschiedensten Gebieten so Großartiges geleistet haben.“ Der Dichter Theodor Fontane zählt Virchow zu den „neuzeitlichen Vorbildern, … die moralisch und intellektuell die Welt fördern und ihre Lebensaufgabe nicht in egoistischer Einpöklung abgestorbener Dinge suchen“.

 

Daß ihm auch die medizinische Fachwelt außerhalb Deutschlands ihren hohen Respekt zollt, belegt ein Nachruf aus dem sonst den Deutschen eher mit Argwohn begegnenden London. Das „British Medical Journal“ wandelt als ein Zeichen der Reverenz für Rudolf Virchow den einst auf Sir Isaac Newton gemünzten Vers des Dichters Alexander Pope folgendermaßen ab: „Nature and Nature’s laws lay hid in night: God said, Let Virchow be, and all was light.“

 

Nachzutragen bleibt, daß der große Arzt und Gelehrte Rudolf Virchow seit dem 24. August 1850 mit Rose Mayer, der Tochter eines Berliner Freundes und Kollegen,  glücklich verheiratet ist und mit ihr sechs Kinder hat.