Theodor Tantzen

 

Liberaler und Demokrat der ersten Stunden

 

 

„Demokrat zu heißen und zu sein ist der höchste Ehrentitel.“ Dieses Wort von Theodor Tantzen sagte eigentlich schon das Wesentliche über sein politisches Selbstverständnis aus. Die Grundzüge seiner Persönlichkeit und sein politisches Handeln waren geprägt von unbedingtem Vertrauen in die Kraft und die moralische Überlegenheit der Demokratie, für die er freilich Anerkennung und Autorität forderte. Mit dieser kämpferischen Überzeugung stand er in einer sich über mehrere Generationen erstreckenden Familientradition: Der Großvater war Mitglied des sogenannten Oldenburgischen Vorparlamentes von 1848 gewesen, der Vater Gemeinderat und mehr als zwanzig Jahre lang Mitglied des Oldenburgischen Landtages.

 

Von Kindheit an waren ihm also die Prinzipien der demokratischen Ordnung vertraut. In der Familie Tantzen, deren Stammsitz in der Wesermarsch über Jahrzehnte Mittelpunkt demokratischer und liberaler Politik im Oldenburgischen war, herrschte von jeher ein ausgeprägter friesischer Freiheitssinn, gepaart mit norddeutschem Bauernstolz. In der Person Theodor Tantzens gelangten diese beiden Charakteristika zu einer - freilich nicht immer glücklichen - Symbiose.

 

Schon 1897, mit zwanzig Jahren, trat Tantzen in die „Freisinnige Volkspartei“, die Vereinigung der fortschrittlichen Liberalen zur Zeit der Jahrhundertwende, ein. Den Idealen seiner Jugend, die sich mit den Namen Eugen Richter, Albert Traeger und Friedrich Naumann untrennbar verknüpften, blieb Tantzen ein Leben lang treu. Bis zu seinem Tode im Jahre 1947 wurde die demokratische Entwicklung in Deutschland von Reaktion und Diktatur immer wieder bedroht und unterdrückt. In wechselvoller Zeit blieb Tantzen standhaft bei seiner Überzeugung und ließ keinen Zweifel daran, daß für ihn die Feinde der Demokratie gleichermaßen auf der extremen nationalistischen Rechten wie der extremen bolschewistischen Linken standen.

 

Sein politischer Weg durchläuft alle Ebenen der parlamentarischen Demokratie – von der Kommunalpolitik bis zur Reichstagszugehörigkeit. 1902, mit 25 Jahren, wurde er Mitglied des Gemeinderates von Abbehausen, seinem Geburtsort. 1911 wurde er in den Oldenburgischen Landtag gewählt. 1919 wurde er Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und 1928 Mitglied des Reichstages in Berlin. Diese politische Karriere, die schließlich 1947, nach der Eingliederung des Landes Oldenburg in das neugeschaffene Bundesland Niedersachsen, mit dem Amt des stellvertretenden niedersächsischen Ministerpräsidenten und Verkehrsministers ihren Abschluß fand, ist von Höhen und Tiefen gekennzeichnet, von großen Erfolgen und deprimierenden Rückschlägen. Das liberale und demokratische Engagement Theodor Tantzens jedoch erlahmte nie, niemals bezog er opportunistische Positionen, niemals resignierte er angesichts nahezu unlösbarer politischer Probleme.

 

Den ersten Höhepunkt seiner politischen Arbeit erlebte Theodor Tantzen 1919 nach der Wahl zum Oldenburgischen Landtag. Zuvor war er in die neu gegründete, von Friedrich Naumann geführte linksliberale „Deutsche Demokratische Partei“ (DDP) eingetreten und gleichzeitig ihr Vorsitzender im Landesverband Oldenburg geworden. Als Spitzenkandidat der DDP trat er bei der Landtagswahl an und errang mit seiner Liste auf Anhieb die meisten Stimmen. Mit zwölf Sitzen zogen die Linksliberalen in den ersten Landtag des Freistaates Oldenburg ein. Auf Vorschlag des Sozialdemokraten Paul Hug, mit dem ihn eine persönliche Freundschaft verband, wurde Theodor Tantzen zum ersten Ministerpräsidenten von Oldenburg gewählt. 32 der 41 abgegebenen Stimmen entfielen auf ihn. Er bildete, nach dem Muster der „Weimarer Koalition“ auf Reichsebene, ein Regierungsbündnis mit den Sozialdemokraten und dem Zentrum.

 

Seine unbeirrbare, liberaldemokratische Grundauffassung, gepaart mit dem klaren Bekenntnis zur Autorität des gewählten Parlamentes und der Regierung, wandte sich gegen alle Versuche der Nationalkonservativen, zur alten feudalen Ordnung zurückzukehren, und gegen die anhaltenden Bemühungen der Ultralinken, die Diktatur des Proletariats in Form von Rätesystemen zu installieren. In seiner Antrittsrede sagte er: „Leben und Eigentum stehen unter dem Schutz des Staates. Die Regierung trägt die volle Verantwortung dafür, daß im demokratischen Staat die Mehrheit ihren Willen durchsetzt. Demokratie setzt Einsicht und Vernunft voraus und fordert größte Selbstdisziplin.“ Und weiter: „Nicht Altes wiederaufzubauen, sondern Neues zu schaffen, ist unsere Aufgabe. Das wird dem schwer werden, der Privilegien aufgeben muß und sich damit in den Kreis gleichberechtigter Volksgenossen zu stellen hat. Die neue Verbindungsbrücke zwischen Kapital und Arbeit – denn da liegt der Kampf von heute – muß gesucht und gefunden werden. Sie kann nur gefunden werden, wenn das gegenseitige Verständnis gefördert wird. Nur dann kann für beide Teile Zufriedenheit, Nutzen und Lebensfreude daraus erwachsen. Neuer sozialer Geist aber muß manchen Unternehmer erfüllen. Sie müssen ihren Mitarbeitern Kameraden sein.“

 

In seinen Hinweisen auf die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs zwischen Arbeitern und Unternehmern ist deutlich der Einfluß Friedrich Naumanns zu spüren. Die soziale Frage der damaligen Zeit, „aus Industrieuntertanen Industriebürger zu machen“, war Theodor Tantzen ebenso ein Anliegen wie seinem Vorbild, dem sozialliberalen Führer der DDP.

 

Seine entschlossenen Worte offenbaren aber auch, welche Einstellung er seinem hohen Amte gegenüber hatte: Er forderte die Anerkennung der Autorität, die dem vom Volk gewählten Parlament, der Regierung und dem Ministerpräsidenten zustehe. In dieser Überzeugung wurzelten seine politischen Entscheidungen. Autorität war ihm freilich untrennbar mit Verantwortung verbunden. Tantzen war nicht der Mann, der die Verantwortung gescheut hätte, die seine Position von ihm verlangte. Besonders eindrucksvoll bewies er das durch sein Handeln während des reaktionären Kapp-Lüttwitz-Putsches 1920: Gegen Wilhelmshavener Marineoffiziere, die sich zu Kapp bekannten, schritt er unbeirrt ein, ließ sie in Haft nehmen und enthob sie ihrer Ämter. Zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen schrieb er: „Deutschland ist demokratisch, oder es ist kein Deutschland mehr. Der Gedanke der Demokratie ist der Ausdruck der höchsten Gerechtigkeit und der größten persönlichen Freiheit, die nur ihre Grenze findet an den Interessen der Gesamtheit.“

 

Am 6. Juni 1920 fanden Reichstags- und Landtagswahlen statt. Auf einen wohl einmaligen Aspekt dieser Wahlen, der die große liberale Tradition der Familie Tantzen markiert, sei an dieser Stelle hingewiesen: Nicht weniger als vier Träger des Namens Tantzen kandidierten 1920 für die „Deutsche Demokratische Partei“; auf der Landtagsliste die Brüder Ernst und Theodor nebst ihrem entfernten Vetter Robert Tantzen-Rodenkirchen, auf der Reichstagsliste Dr. Karl Tantzen-Rodenkirchen, ein Sohn von Robert Tantzen!

 

Der Ausgang der Wahlen brachte für die DDP sowohl auf Reichs- als auch auf Landesebene eine schmerzliche Niederlage, die vor allem wegen der Enttäuschung weiter bürgerlicher Kreise über die Annahme des Versailler Friedensvertrages durch die „Weimarer Koalition“ zustande kam. Die DDP hatte sich recht dubios dargestellt: Zwar hatte sie in manchen öffentlichen Bekundungen gegen das „Versailler Diktat“ polemisiert, im Bündnis mit SPD und Zentrum jedoch für die Annahme gestimmt. Im Oldenburgischen Landtag erhielt sie nur noch sechs Mandate. Dennoch blieb die alte Koalition mit 26 von 48 Sitzen am Ruder, und Theodor Tantzen wurde wiederum zum Ministerpräsidenten gewählt. Er legte den von der Verfassung vorgeschriebenen Handschlag bei der Ernennung in die Hand seines älteren Bruders Ernst, des Landtagspräsidenten.

 

Obwohl Tantzen sich durch diese Wiederwahl in seiner Politik bestätigt fühlen konnte, wurde gegen seinen autoritären und kompromisslosen Regierungsstil schon damals heftige Kritik laut, die sich später noch verstärken sollte: Der Oppositionsführer Lohse, Vorsitzender der rechtsliberalen „Deutschen Volkspartei“ (DVP), warf ihm vor, seine Politik sei häufig mehr durch Temperament als durch staatsmännische Besonnenheit gekennzeichnet. Und als der Ministerpräsident sich bemühte, die Regierung durch die Einbeziehung der DVP auf eine breitere Basis zu stellen, lehnten die Rechtsliberalen mit der Begründung ab, die Person Tantzen sei für sie nicht akzeptabel. Das war der Anfang vom Ende seiner Regierungstätigkeit. Gleichwohl erlebte er 1922 einen weiteren Höhepunkt seiner politischen Karriere:

 

Der Reichsernährungs- und Finanzminister Dr. Hermes (Zentrum) reichte aus persönlichen Gründen seinen Rücktritt ein und schlug gleichzeitig Theodor Tantzen als seinen Nachfolger vor. Für Tantzen, der sich vor allem durch seine programmatische Landtagsrede zur Agrarpolitik am 8. März 1922 auf diesem Gebiet einen Namen gemacht hatte, musste der Vorschlag eine überaus gewichtige Bestätigung seiner seit langem verfolgten, aber nicht unumstrittenen Reform der Landwirtschaft sein, zumal er nicht einmal aus seiner eigenen Partei kam. Ihm ging es darum, von der überkommenen Subventions- und Protektionspolitik für die Junker und Großgrundbesitzer abzurücken und sich statt dessen neuen Konzepten agrarischer Veredelung zu öffnen. Bei den kleinen und mittleren Landwirten fand er dafür offene Ohren, während die an Privilegien gewöhnten Großagrarier ihre Subventionsfelle wegschwimmen sahen und deshalb ihren nicht unerheblichen Einfluß gegen die Pläne Tantzens ins Feld führten. Für das Amt eines Reichsministers hätte er mit Sicherheit die notwendigen Qualifikationen und das politische Format besessen, auch wäre er der richtige Mann gewesen, um die Protektion der Privilegierten zurückzuschrauben, jedoch lehnte er mit der Begründung ab, er wolle seine Kräfte auf seine Heimat, den Freistaat Oldenburg, konzentrieren. Die Tatsache indes, daß man ihn in Berlin für eine große nationale Aufgabe hatte gewinnen wollen, musste ihn mit Befriedigung und mit neuem Selbstvertrauen erfüllen.

 

Seine Auseinandersetzungen mit der parlamentarischen Rechten, vor allem mit der DVP, wurden indessen immer unversöhnlicher. Schon in seinem entschlossenen Eintreten gegen die Gewährsleute des Kapp-Lüttwitz-Putsches, denen die DVP abwartend, aber nicht ohne Sympathie gegenübergestanden hatte, hatte sich gezeigt, daß er die Reaktion mit ganzer Kraft zu bekämpfen gedachte. Diese Haltung prägte auch die über Jahre immer wieder aufflackernden Differenzen mit seinem Parteifreund, dem Reichswehrminister Otto Gessler, dem er eine zu stark rechtslastige Besetzung hoher Offiziersstellen in der Reichswehr vorwarf. Er warnte in den Anfangsjahren der Weimarer Republik immer wieder vor der Gefahr von rechts, gelegentlich nahmen seine Warnungen durchaus Züge von Idiosynkrasie an. Damit schaffte er sich mehr Feinde als Freunde, vor allem bei der DVP, aber auch in den Reihen der Koalition und schließlich sogar in der eigenen Partei.

 

Die DVP rächte sich im Jahre 1923 an Tantzen und seiner leidenschaftlichen Parteinahme gegen rechts, indem sie der von Reichskanzler Cuno erbetenen Verlängerung der Landtagssession um ein Jahr nicht zustimmte. Damit war nach der Verfassung das zustimmende Votum der Regierungsparteien hinfällig, die Regierung Tantzen trat zurück und machte einem Übergangskabinett Platz.

 

Diese Niederlage muß Theodor Tantzen tief verbittert haben. Zwar versuchte er nach den nächsten Wahlen nochmals, in das Ministerpräsidentenamt zurückzukehren, aber durch seine starrköpfige, kompromisslose Haltung nicht nur in der Bekämpfung rechtsgerichteter, nationalistischer Strömungen, sondern vor allem in agrarpolitischen Einzelfragen, wurde er für die einen unverzichtbar, für die anderen jedoch unannehmbar. Nachdem er sich 1925 mit der Anfechtung der Landtagsauflösung durch die Regierung von Finckh nicht durchsetzen konnte, nahm er seine hohen Ambitionen schließlich zurück und beschränkte sich auf die Agrarpolitik.

 

Man mag rückblickend Tantzens kompromisslose Haltung gegenüber der Reaktion von rechts bewundern und sie nach leidvoller Erfahrung politisch für besonders weitsichtig halten – aber es ist eben auch angebracht, das starrsinnige Wesen des Bauern aus der Wesermarsch, das nicht nur sein Temperament prägte, sondern sich gleichermaßen in Sachfragen bemerkbar machte, in Fragen der Landwirtschaft, der Finanzen und der Steuern etwa, mit einiger Kritik zu betrachten. Er manövrierte sich mit seiner Sturheit immer wieder in isolierte, ausweglose Positionen und entzog seiner Politik dadurch eine Fülle ihrer Wirkungsmöglichkeiten.

 

Auch 1928, als Mitglied des Reichstages und einer der führenden Politiker der DDP, gelang es ihm nicht, seinen Starrsinn zugunsten politischer Kompromisse aufzugeben. Obwohl er gewiß in seiner grundsätzlichen Auffassung, dem liberalen Ideal der Freiheit des Einzelnen auf radikaldemokratischem Wege näherzukommen, mit den meisten seiner Fraktionskollegen übereinstimmte, vermied er es nicht, ihnen immer wieder kleinliche, provokante Vorwürfe zu machen. Sowohl allgemeine Äußerungen zu Charaktereigenschaften als auch Stellungnahmen zu politischen Sachfragen missrieten ihm gelegentlich zu persönlichen Verunglimpfungen. Daß er den Parteivorsitzenden Erich Koch-Weser einen „Führer ohne suggestive Kraft“ zu nennen pflegte, ist noch eine der höflicheren Etikettierungen. Seinem Parteifreund Hermann Dietrich, dem Reichsernährungsminister, warf er wegen kontroverser Auffassungen zur Rohstoff- beziehungsweise Veredelungslandwirtschaft vor, er betreibe eine „an volkswirtschaftlichen Unsinnigkeiten kaum zu überbietende Steuer- und Finanzpolitik“. Zu solchen und ähnlichen Äußerungen gesellte sich ein unvermittelter Gesinnungswandel in Sachen Wehrpolitik: Der vormals engagierte Kritiker des deutschen Offizierskorps forderte plötzlich „ein positives Verhältnis zur Reichswehr“. Am Ende wusste kaum jemand, wie man den dickköpfigen Oldenburger nun eigentlich einzuschätzen hatte.

 

Die Auseinandersetzung mit Hermann Dietrich war es schließlich, die ihn 1930 bewog, sein Mandat niederzulegen und aus der DDP auszutreten. Dazu schreibt Werner Stephan, der damalige Reichsgeschäftsführer der DDP, in seinem Buch „Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus“: „Dietrich gefiel ihm (Tantzen) menschlich, war er doch im alemannischen Stil ein ebenso harter Kämpfer wie Tantzen in seiner kantigen Friesenart. Aber die Interessenlage des Schweinemästers aus der Wesermarsch war zu verschieden von der des verantwortlichen Staatsmannes. Ihm warf der Bauer von der Nordseeküste vor, daß er ‚den ostelbischen Großgrundbesitzern durch seine Subventionspolitik eine Bodenrente sichert’. Daß Tantzen nun als Protestler nicht nur den Reichstag, sondern auch die DDP in kritischer Stunde verließ, wurde als ein schwerer Schlag empfunden. Er gehörte zu den Triariern des Liberalismus wie der Demokratie. Auf wen konnte man noch zählen, wenn solche Männer der Partei den Rücken kehrten?“

 

Der Austritt Tantzens aus der Demokratischen Partei bewirkte bei der Reichstagswahl 1930 einen katastrophalen Rückgang der Wählerstimmen für die DDP in Oldenburg und Friesland. Die Linksliberalen verloren ihren politischen Einfluß, sie mussten den Konservativen das Feld überlassen und schließlich machtlos zusehen, wie die nationalsozialistische Diktatur die Demokratie abschaffte. Werner Stephan bringt auch Tantzen mit dieser verhängnisvollen Entwicklung in Verbindung, wenn er schreibt: „Aber Schacht und Theodor Wolff, Payer und Tantzen schieden nicht aus, weil ihnen die ganze Richtung nicht passte. Sie demonstrierten schlechte Laune, weil man im Einzelfall ihren Wünschen nicht entsprochen hatte und schädigten damit in der breiten Öffentlichkeit die Partei nachhaltig.“

 

Soll man Tantzen nun einen Vorwurf aus seinem Verhalten machen? Soll man ihn in die Reihen derer stellen, die sich nicht entschieden genug für die Verteidigung der Weimarer Republik eingesetzt haben? Dieser Schluß griffe mit Sicherheit zu kurz, er wäre zu oberflächlich und würde der integren Persönlichkeit Theodor Tantzens nicht gerecht.

 

Viele, die das Ende der ersten deutschen Republik nur aus den Geschichtsbüchern kennen, können nicht ermessen, mit welchen Schwierigkeiten die demokratischen Politiker damals zu kämpfen hatten. Tantzen hat diesen Kampf immer leidenschaftlich für die Durchsetzung der liberalen Demokratie geführt. Wenige haben unter der zunehmenden Machtlosigkeit liberaler Politik mehr gelitten als er. Und die Tatsache, daß er die DDP schließlich verließ, ist auch als Zeichen dafür zu werten, daß er das Arrangement mit der immer stärker werdenden Reaktion ablehnte und daß ihm der sich beschleunigende Schwund eines eigenständigen, liberalen Profils der DDP, der Niedergang liberaler Werte und das unaufhaltbare Abwandern der Wähler schließlich unerträglich wurden. In seiner positiven Wendung zur Reichswehr, deren Offizierskorps aus seinen Sympathien für nationalistische und rechtsreaktionäre Kreise durchaus kein Hehl machte, hatte er die Grenzen seiner Kompromißfähigkeit mit dem völkischen Zeitgeist erreicht. Er fürchtete, die DDP werde dem Kurs der Rechtsliberalen, der DVP, folgen und ihre liberalen Grundsätze vollends verraten. Deshalb zog er sich zurück.

 

Mindestens zu einem Teil hat die Geschichte ihm recht gegeben. Mit der Wandlung der linksliberalen DDP zur „Deutschen Staatspartei“ im Juli 1930 und dem zeitweiligen Zusammenschluß mit der „Volksnationalen Reichsvereinigung“, dem politischen Arm von Artur Mahrauns „Jungdeutschem Orden“, ging tatsächlich ein erheblicher Verlust an liberaler Substanz einher. Viele Mitglieder vollzogen den Schritt Theodor Tantzens deshalb nach. Indessen verlor die Partei ihre liberale Eigenart doch nicht ganz und gar. Männer wie Theodor Heuss und Reinhold Maier standen auch 1933 noch dafür. Tantzen aber war aus anderem Holz. Weniger der taktierende Politiker, mehr der Mann der unverrückbaren Grundsätze, die zu verleugnen oder auch nur über Gebühr zu relativieren er nicht in der Lage war. Seine persönliche Integrität verdient hohen Respekt.

 

Daß er ohne Zweifel ein aufrechter Demokrat und von konsequenter Grundsatztreue war, hat Theodor Tantzen mit seinem Verhalten während der Hitler-Diktatur am eindrucksvollsten bewiesen. Natürlich waren ihm, dem engagierten Liberaldemokraten, alle politischen Betätigungsmöglichkeiten genommen. Er zog sich völlig auf seinen Bauernhof zurück und musste erleben, daß seine Befürchtungen bezüglich der Gefahr von rechts nur zu berechtigt gewesen waren. Dreimal warfen ihn die Nationalsozialisten in den Kerker, 1939 und 1945 unter fadenscheinigen Vorwänden, 1944 aber wegen der angeblichen Beteiligung an der Verschwörung vom 20. Juli. Ob er an dieser Verschwörung tatsächlich beteiligt war, läßt sich heute kaum noch zweifelsfrei feststellen. Sicher ist, daß er im engen Freundeskreis unermüdlich vor der drohenden Katastrophe warnte und daß er während der Nazi-Zeit oppositionelle politische Kontakte auch ins Ausland weiterverfolgte. Sicher ist außerdem, daß er auf einer Liste Goerdelers stand, die ihn im Falle eines geglückten Anschlages auf Hitler als politischen Beauftragten für den 10. Wehrkreis vorsah. Der Hinrichtung in Moabit entging er nur knapp. Da man ihm aber letztlich nicht nachweisen konnte, daß er seine Zustimmung zur Aufnahme in die Liste gegeben hatte, überlebte er die Diktatur.

 

Daß Theodor Tantzen nach dem Ende der Schreckensherrschaft von den Engländern für die Wiederaufrichtung der Ordnung in die politische Verantwortung zurückgeholt wurde, zeigt, wie genau man über seine Haltung informiert war und welches Vertrauen er genoß. Schon im Mai 1945 wurde er von der englischen Besatzungsmacht als Ministerpräsident des Landes Oldenburg eingesetzt, im Februar 1946 wurde er der erste Präsident des Oldenburgischen Landtages. So war es seine politische Bestimmung, nach zwei verlorenen Weltkriegen jeweils die Verantwortung für den Wiederaufbau des Landes Oldenburg tragen zu müssen.

 

Natürlich rechnete Theodor Tantzen mit den Nationalsozialisten, die er immer bekämpft hatte, nach 1945 scharf ab. Jedoch zeigte er auch hier seine konsequent liberale Haltung, die Gerechtigkeit statt Rache forderte: Die Freisprüche der Nürnberger Prozesse erkannte er an, nichts war ihm mehr zuwider als seinen Feinden mit denselben unrechtmäßigen Methoden zu begegnen, die sie gegen ihn angewandt hatten. Und außerdem durchschaute er das allzu laute Geschrei nach Vergeltung, das bei manchem Schreier nur die eigene Schuld vertuschen sollte.

 

Die Schuldfrage indessen beschäftigte ihn in seinen letzten beiden Lebensjahren immer wieder. Über sie korrespondierte er ausführlich mit seinem Neffen, dem weltbekannten Existenzphilosophen Karl Jaspers. Jaspers und Theodor Tantzen hatten nie ein Verhältnis Onkel/Neffe gehabt, ihr Altersunterschied betrug nur sechs Jahre, und es verband sie die gleiche liberale Grundauffassung. Aus seinen Briefen an Jaspers läßt sich eine innige Freundschaft und eine aufrichtige Bewertung der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg ablesen. Tantzen betonte immer wieder, daß auch in der Passivität aus Gründen der Selbsterhaltung eine Schuld liege, und daß diese Schuld nur dann gesühnt werden könne, wenn sich alle Deutschen an einem demokratischen Wiederaufbau mit allen Kräften beteiligten.

 

Sein Leben lang war Tantzen überzeugter Pazifist gewesen. Zwar war sein Eintreten für den Schutz der demokratischen Ordnung durch Bürgerwehren stets eindeutig, aber ebenso eindeutig sprach er sich immer wieder gegen jede bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Nationen aus. Die Erfahrung aus zwei Weltkriegen hatte ihn nunmehr gelehrt, daß eindauerhafter Frieden in der Welt nur durch ein geeintes Europa gesichert werden konnte. In seinen „Gedanken zur Wahl“ vom September 1946 schreibt er: „Europa ist nicht denkbar ohne Deutschland, ohne Demokratie keine Zukunft, keine Freiheit Deutschlands, ohne ein einiges Europa kein Frieden in der Welt.“

 

Als sein Sohn Theodor nach dem Kriege die „Demokratische Union“ gründete, die Vorläuferpartei der Freien Demokraten in Oldenburg, schloß er sich ihr zwar sofort an, jedoch gedachte er sich nicht mehr parteipolitisch zu engagieren. Er strebte ein neutrales Amt im Staate an, durch das er seine reichhaltige politische Erfahrung für den Wiederaufbau Deutschlands nutzbar machen konnte. Dieses Amt jedoch war ihm nicht mehr vergönnt, als stellvertretender Ministerpräsident und Verkehrsminister von Niedersachsen im Kabinett von Hinrich Kopf starb er am 11. Januar 1947, an seinem Schreibtisch sitzend.

 

An der Persönlichkeit Theodor Tantzens und seiner Biographie läßt sich auch die stets gefährdete Position des politischen Liberalismus beispielhaft verdeutlichen. Die vernuftbezogenen, allen irrationalen Phrasen und illiberalen Dogmen ablehnend gegenüberstehenden Ideale bleiben stets der Gefahr verhaftet, von demagogischen Parolen überrollt zu werden. In welchem Maße die Menschen dafür anfällig sind, zumal in nicht eben leichter Zeit, hat das Ende der Weimarer Republik gezeigt. Tantzen und seine Freunde gerieten hoffnungslos in die Defensive. Der Demokrat aus der Wesermarsch mochte nicht bis zum bitteren Ende in seiner ohnmächtigen Fraktion ausharren; andere, die bis zuletzt als Reichtagsabgeordnete für die liberale Sache einstanden, verfielen der Illusion, Hitler immer noch mit parlamentarischen Mitteln bekämpfen zu können. Dabei hatte die Macht irrationaler Hetze die rationalen Argumente zivilisierter, demokratischer Politik längst aus dem Feld geschlagen. Daß die fünf Abgeordneten der Deutschen Staatspartei dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zustimmten, weil sie glaubten, Macht, die vom Parlament verliehen wäre, könne jederzeit vom Parlament wieder kassiert werden, zeigt, wie weit sich der politische Liberalismus und seine Repräsentanten 1933 von den tatsächlichen Verhältnissen in Deutschland entfernt hatten.

 

Karl Jaspers hat die Gefährdung des Liberalismus in seiner „Einführung in die Philosophie“ von 1953 folgendermaßen beschrieben: „Man wendet sich gegen den Liberalismus, sieht nur dessen Erstarrung im Gehenlassen und im äußerlichen Fortschrittsglauben, nicht die tiefe Kraft der Liberalität. Man wendet sich gegen Toleranz als herzlose Gleichgültigkeit der Glaubenslosen und sieht nicht die universale menschliche Kommunikationsbereitschaft. Kurz, man verwirft unseren Grund von Menschenwürde, Erkennenkönnen, Freiheit und rät zum geistigen Selbstmord der philosophischen Existenz.“ Theodor Tantzen war niemals in Versuchung, sich von seinen Idealen abzuwenden. Männern und Frauen seines Schlages haben wir es zu verdanken, daß uns heute die parlamentarische Demokratie und der liberale Rechtsstaat in der Bundesrepublik Deutschland zur Selbstverständlichkeit geworden sind.

 

 

Literatur

Friedrich-Naumann-Stiftung, Landesbüro Hannover (Hrsg.): Theodor Tantzen 1877 – 1947. Oldenburg 1977.

Werner Stephan: Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918 – 1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei. Göttingen 1973.

Karl Jaspers: Die Schuldfrage. München 1979.

Martina Neumann: Theodor Tantzen. Ein widerspenstiger Liberaler gegen den Nationalsozialismus. Hannover 1998.