Vom liberalen Geist unserer Verfassung 

 

 

 

Mit der Verkündung des Grundgesetzes haben die Mitglieder des "Parlamentarischen Rates" 1949 einen konsequenten Schlußstrich unter die nationalso­zialistische Vergangenheit gezogen und der Bundesrepublik Deutschland das Ge­sicht eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates gegeben.

 

Gleichzeitig sollte ein "zweites Wei­mar" vermieden werden. Die Verfassung mit ihren eigenen Mitteln auszuhebeln, wie es in der Weimarer Republik geschehen war, sollte nun nicht mehr möglich sein. Deshalb wurde die „Fünf-Prozent-Hürde“ ebenso vorge­sehen wie die Zweidrittel-Mehrheit für Grundgesetz­änderungen; Volksabstimmungen wurden nur in Son­derfällen zugelassen.

 

Auf unser Grundgesetz können wir Deutschen zurecht stolz sein. Obwohl es nicht die Frucht eines Freiheits­kampfes oder einer Revolution ist und ihm damit die Aura der ameri­kanischen oder der französischen Verfassung fehlt, ist es die freiheit­lichste und ausgewogenste Verfassung, die es jemals in der deutschen Geschichte gegeben hat. Und es ist die zuverlässige Garantie für eine stabile freiheitliche Ordnung. Die Würde des Menschen, die Menschen­rechte, Freiheit und Gleichheit und die Idee der Volkssouveränität ste­hen im Mittelpunkt. Darauf kann sich jeder Bürger gegenüber den Machtansprüchen jeglicher staatlichen Herrschaft berufen.

 

Den wichtigsten Teil unserer Verfassung bilden die Grund­rechte. Sie sind in den ersten 19 Artikeln nieder­gelegt und garantieren die klassischen Schutzrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Der Grundrechtekatalog der ersten 19 Artikel ist aber nicht abschließend. Andere grundrechtsgleiche Rechte sind an anderer Stelle aufgeführt. So vor allem die Verfahrensgrundrechte des Artikels 101, insbesondere die "Garantie des gesetzlichen Richters", oder des Artikels 103, der den Rechtsgrundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz" festschreibt.

 

Die Grundrechte binden die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. Im einzelnen wird unterschieden zwischen

-         den Frei­heitsrechten,

-         den Gleichheitsrechten und

-         den Gewährleistungen von Eigentum und Erbrecht.

 

Als Freiheitsrechte garantiert das Grundgesetz in Artikel 2 das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie auf Freiheit der Per­son. Artikel 4 gewährleistet die Glaubens- und Gewissensfreiheit; aus Gründen des Gewissens darf der Kriegsdienst mit der Waffe verweigert werden. Die Grundvoraus­setzungen geistiger Freiheit und der offenen Auseinandersetzung unter­schiedlicher Meinungen werden mit dem Schutz der Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit und Pressefreiheit sowie der Freiheit von Kunst und Wissenschaft in Artikel 5 garantiert.

 

In engem Zusammenhang hiermit stehen die Grundrechte der Ver­sammlungsfreiheit und der Vereinigungsfreiheit in Artikel 8 und 9. Auch sie dienen vor allem der freien öffentlichen Meinungsbildung. Spezifische Freiheitsgarantien enthalten die Grundrechte auf Wahrung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, der Unverletzlichkeit der Wohnung sowie der Freiheit der Berufswahl und Berufsausübung in den Artikeln 10, 12 und 13.

 

Den Artikel 13, die Unverletzlichkeit der Wohnung, hat der Deutsche Bundestag 1998 geändert, um bei Verdacht auf schwere kriminelle Handlungen Wohnungen abhören zu können. Diese Änderung war vor allem bei liberal Denkenden durchaus umstritten. Einige Abgeordnete haben im Parlament dagegen gestimmt, weil sie es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, Gefährdungen oder Einschränkungen der Bürgerfreiheit zuzulassen, die sich aus dieser Änderung ergeben könnten. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsänderung in einigen Punkten revidiert und den „Großen Lauschangriff“ nur auf richterliche Anordnung bei Verdacht auf besonders schwere Straftaten zugelassen.

 

In den Artikeln 11, 16 und 17 sind die Grundrechte der Freizügigkeit, des Schutzes vor Auslieferung, des Asylrechts und des Petitionsrechts gewährleistet. Auch zum Asylrecht hat es in der Bundesrepublik eine kontroverse Diskussion gegeben, bevor der Bundestag - eher der Not als innerer Überzeugung gehorchend - im Jahre 1993 den Artikel 16a eingefügt hat, der das Asylrecht an bestimmte Voraussetzungen bindet, es aber als Individualrecht beibehält.

 

Alle diese Grundrechte verbieten dem Staat nicht nur, sie zu verletzen, sondern sie verpflichten ihn auch, sich schützend vor seine Bürger zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen zu bewahren.

 

Neben den Freiheitsrechten stehen die Gleichheitsgrundrechte. Aus dem fundamentalen Menschenrecht der Gleichheit aller Menschen folgt das Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens oder der religiösen und politischen Anschau­ungen. In demselben Zusammenhang ist die Gleichberechti­gung von Mann und Frau gewährleistet.

 

Der allgemeine Gleichheitssatz des Artikels 3 verpflichtet den Staat zur ausnahmslosen Verwirklichung des geltenden Rechts ohne Ansehen der Person. Auch der Gesetzgeber ist an die Grundrechte ge­bunden, er darf also nicht mit zweierlei Maß messen. Er verletzt dieses Gebot, wenn er willkürlich Differenzierungen oder Gleichsetzungen vornimmt.

 

Alle staatlichen Entscheidungen müssen die Grundrechte jedes einzel­nen Bürgers respektieren. Wo Grundrechte gelten und soweit sie gel­ten, entscheidet nicht die Mehrheit, sondern der Einzelne. Entscheidun­gen auch des Gesetzgebers, die Grundrechte mißachten, sind verfassungswidrig. Grundrechte stellen dem Einzelnen nicht nur einen staatsfreien Raum zur Verfügung, son­dern er kann durch ihre Ausübung auch seinerseits in den staatlichen Raum einwirken. So wird die Meinungs­freiheit oder die Berufung auf das Grundrecht der Kriegsdienstverwei­gerung ohne Rücksicht auf die Folgen geschützt, die sich hieraus für die Allgemeinheit ergeben.

 

In der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist der Einzelne weder Untertan noch Objekt eines Kollektivs. Er hat die Möglichkeit, durch die Beteiligung an Wahlen an Entscheidungen mitzuwirken und einen Wechsel der politischen Füh­rung zu erreichen. Die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes verleiht Herrschaft nur auf Zeit. Das Mandat im Deutschen Bundestag muß deshalb alle vier Jahre erneuert werden.

 

Die parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen sind verbindlich, sofern sie nicht gegen Verfassungs­recht verstoßen und durch das Bundesverfassungsgericht korrigiert werden. Auch bei Minderheiten wird Einsicht in die Notwendigkeit einer für alle verbindli­chen Ordnung vorausgesetzt. Diese Einsicht beruht aber darauf, daß Minderheiten ihrerseits eine reale Chance haben, im Lauf der Zeit selbst die Mehrheit bilden zu können. So soll der Verharzung von Machtstrukturen entgegengewirkt werden. Die politische Ent­wicklung seit 1949 zeigt, daß diese Erwartungen realistisch sind. Auch die gegen die Bildung vieler Splitterparteien nach den Er­fahrungen der Weimarer Zeit eingeführte Fünfprozentklausel hat entgegen manchen Befürchtungen den politischen Macht­wechsel und das Entstehen neuer Parteien nicht verhindert.

 

Ohne sie im einzelnen näher zu erläutern, seien die weiteren Prinzipien, denen unser Grundgesetz folgt, wenigstens erwähnt. Das Rechtsstaatsprinzip bietet dem Einzelnen und der Gesellschaft Rechts­sicherheit und Vertrauensschutz. Es bindet vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Es ist Ausdruck und Konsequenz des Demokratie­prinzips, das die Volkssouveränität, das Mehrheitsprinzip und die Le­gitimation auf Zeit umfaßt. Ebenfalls durch das Rechtsstaatsprinzip gesichert ist die (horizontale) Gewaltenteilung in Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung. Ausdruck der Gewaltenteilung ist aber auch die bun­desstaatliche Ordnung, die mit der Verteilung der Staatsgewalt auf Bund und Länder, dem sogenannten Föderalismusprinzip (vertikale Gewaltenteilung), einer Zentralisierung staatlicher Macht entge­genwirkt. So soll sie allen staatlichen Machthunger mäßigen und die individuelle Freiheit schützen.

 

Schließlich schreibt die Verfassung das Sozialstaatsprinzip fest. Zusammen mit der Grundnorm des Schutzes der Menschenwürde und dem föderalistischen Prinzip macht es das unveränderbare Fundament der Verfassungsordnung aus. Über Inhalt und Bedeutung der Sozial­staatsklausel in Artikel 20 des Grundgesetzes bestanden und bestehen viele Meinungsverschiedenheiten. Allgemein anerkannt ist, daß mit ihr ein so­genanntes "Staatsziel" festgelegt wurde: Der Staat ist zur Herstel­lung sozialer Gerechtigkeit verpflichtet. Das Menschenbild des Grund­gesetzes sieht den Einzelnen nicht als ein isoliertes, souveränes Wesen, sondern als in die Gemeinschaft eingebundenen Bürger. Zugleich aber kommt ihm ein unantastbarer Eigenwert zu. Es wäre mit diesem Men­schenbild unvereinbar, wenn Freiheit und Würde nur dem sozial und wirtschaftlich Mächtigen zukämen, der sich aus eigener Kraft und zu Lasten anderer durchsetzen kann.

 

Aus dem Sozialstaatsprinzip folgt die Aufgabe und Legitimation des Staates zu sozialer Aktivität, um einen Ausgleich widerstreitender Interessen sowie wenigstens erträgliche Lebens­bedingungen für Notleidende und sozial Schwache herbeizuführen. Der Staat soll daher gleiche soziale Chancen für seine Bürger mit dem Ziel der Freiheit für alle anstreben. Bei die­ser Zielsetzung hat der Staat einen breiten Beurteilungsspielraum. Es ist im wesentlichen die Entscheidung des Ge­setzgebers, auf welche Weise und nach welchen Prioritäten er das So­zialstaatsprinzip verwirklicht. Jedoch bleibt die Erfüllung dieser Aufga­be ständige Verpflichtung des Staates.

 

Die tragenden Verfassungsgrundsätze der Achtung der Menschen­würde, des freiheitlichen Gemeinwesens, der Demokratie, der Rechts­staatlichkeit, der Sozialstaatlichkeit und der Bundesstaatlichkeit werden durch die Staatsorganisation abgesichert. Sie definiert die Zuständig­kei­ten und legt die Kontrolle der Machtausübung fest. Verfassungsorgane sind der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, der Bundespräsident, die Bundesregierung und das Bundes­verfassungsgericht.

 

Der föderale Charakter der Bundesrepublik Deutschland entspricht einer langen Tradition. Für die Zeit nach 1949 ergibt sich sein Sinn aus der Erkenntnis, daß die Aufteilung und Abgrenzung der staatlichen Macht auf den Bund und auf die zunächst elf, seit der Wiedervereinigung nunmehr sechzehn Bundesländer eine größere freiheitssichernde Funktion hat als die Kon­zentration der Macht auf eine Zentrale. Wichtig ist auch, daß die politi­schen Parteien, die sich im Bund in der Minderheit befinden, in einem Teil der Länder selbst politische Verantwortung tragen und so in die Gesamtverantwortung eingebunden bleiben.

 

Leider sind im Laufe der Jahre durch mehrfache Grundgesetzänderun­gen dem Bund auf vielen wichtigen Sachgebieten ursprüngliche Län­derzuständigkeiten übertragen worden. Dadurch und durch einen nicht mehr zeitgemäßen Länderfinanzausgleich, der zum Zwecke der Her­stel­lung gleicher Lebensverhältnisse den ärmeren Ländern Gelder der reicheren zufließen läßt, ist inzwischen eine wettbewerbsfeindliche Si­tuation entstanden. Es ist ganz zwangsläufig, daß jemand, der sowieso mit dem Ausgleich eines erwirtschafteten Defizits rechnen kann, allen­falls einen marginalen Anreiz hat, sich selbst zu helfen.

 

Deshalb müs­sen wir in Deutschland sowohl über eine Neugliederung der Länder als auch über die Rückkehr zu einem wettbewerbsorientierten Födera­lis­mus zu einer Situation finden, die Defizite effektiver beseitigen kann und unsere internationale Konkurrenzfähigkeit verbessert. Die vom Bundestag eingesetzte Föderalismus-Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Beziehungen hat dazu bedauerlicherweise bisher keine wegweisenden Beschlüsse gefaßt, auch wenn sie sich jüngst auf einen freilich nicht unproblematischen Weg aus dem Schuldenstaat geeinigt hat.

 

Unser Grundgesetz muß zu einer echt föderalistischen Verfassung um­gebaut werden. Für Bundesgesetze muß das Zustimmungserfordernis des Bundesrates abgeschafft werden, so daß es allein auf die Bundes­tagsmehrheit ankommt. Das setzt voraus, daß den Ländern zumindest im fiskalischen Bereich Unabhängigkeit von den Beschlüssen des Bun­destages verschafft wird. Die Steuern, die den Bund finanzieren, müs­sen getrennt sein von den Steuern, die die Länder finanzieren. Die Bundessteuern fallen dann in die Zuständigkeit des Bundestages, die Landessteuern in die der einzelnen Länderparlamente. Nach diesem Prinzip der fiskalischen Trennung verfahren echt föderalistische Staaten wie die USA und die Schweiz.

 

Carl Christian von Weizsäcker hat unsere derzeitige Situation einmal wie folgt beschrieben: "Der Pseudoföderalismus der deutschen Verfassung ist in Wirklichkeit eine zentralistische Struktur mit der Besonderheit eines im Namen des Föde­ralismus agierenden Blockiersystems in der Hand der jeweiligen Op­position." Wegen der Zustimmungspflichtigkeit aller Gesetze, die die Länder betreffen, haben wir in Deutschland inzwischen leider eine schwerfällige Konsensdemokratie etabliert. Wichtige Gesetze können praktisch nur mit Zustimmung der beiden großen Parteien beschlossen werden. Diese Sachlage ist in der Verfassung vorgegeben und kann nur durch eine Verfassungsänderung reformiert werden.

 

Deutschland ist wegen seiner Verfassung zu einem extrem konservativen Staat geworden. Die Unfähig­keit zur Veränderung wird mehr und mehr zu ei­ner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Belastung. Mit dem Kon­sensgedanken wird das Grundprinzip der Demokratie falsch erfaßt. Die Welt ist zu komplex, der Handlungsdruck zu groß, als daß man in einer modernen Gesellschaft mit Veränderungen warten könnte, bis ein Kon­sens hergestellt ist. Deshalb muß unser schwerfälliges föderales System so umgebaut werden, daß Bund und Länder sich nicht gegenseitig be­hindern und daß zwischen den einzelnen Ländern ein leistungsfördern­der Wettbewerb entsteht statt eines leistungshemmenden Finanzaus­gleichs. Im übrigen führt das auch zu klaren Verantwortlichkeiten für politische Entscheidungen, die der Wähler dann bewerten und ihnen zustimmen oder die Verantwortlichen abwählen kann.

 

Ein besonderer Aspekt unseres Grundgesetzes wurde vor nun schon fast zwanzig Jahren virulent, die rechtliche Problematik der deut­schen Wiedervereinigung. Der Einigungsprozeß, mit dem kaum jemand gerechnet hatte, hat die Dis­kussion um eine Verfassungsreform wieder angeregt. Zuerst in der De­batte darüber, ob die Einigung gemäß Artikel 146 vonstatten gehen sollte, das heißt mithilfe einer durch Volksabstimmung beschlossenen neuen Ver­fassung. Die damalige christlich-liberale Regierungskoalition präfe­rierte die Erhaltung des Bewährten; die rot-grüne Opposition wollte in ihrer Mehrheit die Legitimität einer neuen Verfassung durch eine Volksabstimmung herstellen. Die Regierungsparteien setzten sich durch und beschritten den im früheren Artikel 23 vorgesehenen Weg zur Einigung. Danach war das Grundgesetz in seiner bisherigen Form nach dem Beitritt der neuen fünf Länder zur Bundesrepublik vom Bun­destag in Kraft zu setzen. Im Einigungsvertrag und in der Neufassung des Artikels 146 wurde jedoch die Möglichkeit (manche sprechen nicht ohne eine gewisse Plausibilität von einer Notwendigkeit) einer späteren Reform beibehalten.

 

Die Wiedervereinigung bedeutete den tiefsten und auch den posi­tivsten Einschnitt in die Geschichte der Bundesrepublik. Gleichwohl waren es weniger die deutsch-deutschen Ereignisse, die eine Verfas­sungsreform unabdingbar machten, als vielmehr die europapolitischen Entwicklungen und die völlig neue deutsche Rolle als souveräner Staat in der internationalen Staatenge­meinschaft. Die eigentliche Triebfeder der Verfassungsreform waren die durch den Vertrag von Maastricht notwendig gewordenen Grund­gesetzänderungen, deren Tragweite und Bedeutung erst allmählich bewußt wurde. Erst durch die Einführung des Euro, so scheint es, ist manchen in Deutschland klar geworden, daß Europa nach Maastricht unumkehrbar in eine qualitativ neue Phase seiner Entwicklung eingetreten ist.

 

Als Ergebnis des deutsch-deutschen Einigungsvertrages wurde im No­vember 1991 eine gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat eingesetzt. Weil die zur Beschlußfassung notwendige Zweidrittelmehrheit wiederum den Konsens der großen Parteien erfor­derte, gingen aus der Kommission nur wenige Empfehlungen zur Ände­rung des Grundgesetzes hervor. Schließlich blieb das wichtigste Ergebnis die Verabschiedung des neuen Europa-Artikels 23, der an die Stelle des nunmehr überflüssigen Artikels über den Geltungsbereich des Grundgesetzes trat. Im Ausland ist diese Plazierung des Maastricht-Artikels häufig als eine Geste gewürdigt worden, die zeigen sollte: Das größer und wichtiger gewor­dene Deutschland hat seinen festen Ort im Verbund der Europäischen Union und bedroht niemanden.

 

Trauer über eine "verpaßte Chance", von der manche seinerzeit sprachen, ist aber dennoch unangebracht. Nicht, weil keine Veränderungen nötig gewesen wären, sondern weil das Gros der vorgeschlagenen Änderungen keineswegs als Fortschritte gewertet werden konnte. Die Aufnahme von sozialen Staatszielen in das Grundgesetz, wie zum Beispiel des Rechtes auf Arbeit - was von der damaligen Opposition angestrebt wurde - hätte eine weitere Stärkung längst überholter Konzepte bedeutet. Der Wohlfahrts- und Versorgungsstaat von gestern wäre befestigt und zentralstaatliche Tendenzen wären fortgeschrieben worden. Es kommt aber gerade im europäischen Zusammenhang darauf an, die föderale Struktur und ihre Stärken im oben genannten Sinne zu beför­dern und die Länder mit neuen Kompetenzen auszustatten. Statt sie in das Grundgesetz aufzunehmen, hat man in alle fünf Landesverfassun­gen der Neuen Länder soziale Staatsziele aufgenommen, auch das Recht auf Arbeit.

 

Ich gestatte mir dazu anzumerken, daß es sich dabei um nichts weiter als um deklamatorische Akte handelt. Denn es wäre doch widersinnig, wenn ein freiheitlicher und demokratischer Staat, um das Recht auf Ar­beit zu realisieren, seinen Bürgern Art und Ort ihrer bezahlten Tätigkeit vorschreiben wollte. Nur so aber ließe sich ein solches Recht verwirk­lichen. Versteht man unter Staatsziel indessen nur die Verpflichtung des Staates, sein Bestreben darauf zu richten, daß möglichst alle Arbeit finden können, so gibt unser Grund­gesetz eine solche Verpflichtung ohnehin durch sein Sozialstaatsprinzip vor.

 

Insgesamt jedoch kann man nach sechzig Jahren und auch nach allen Erfahrungen mit dem deutschen Einigungsprozeß durchaus eine positi­ve Bilanz zur Wirksamkeit des Grundgesetzes ziehen. Schon zweimal ist in Deutschland der Versuch gescheitert, dem Staat eine Verfassung zu geben. 1848/49 mußten die Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche vor den Ansprüchen des übermächtigen Feudalismus kapitulieren, und 1933 verlor die Weimarer Verfassung aufgrund der nationalsozialistischen Diktatur ihre Wirksamkeit. Erst 1949, als die Alliierten dem besiegten Deutschland die Chance dazu einräumten, wurde diese Chance wirklich ergriffen.

 

Nunmehr, nach sechs Jahrzehnten Gül­tigkeit des Grundgesetzes, ist ein allgemeiner Konsens in Deutschland festzustellen. Das Grundgesetz wird von der großen Mehrheit der Bevölkerung als die ge­eignete Verfassung anerkannt, die uns eine liberale Ordnung, das heißt Freiheit und Wohlstand, sichern kann. An skeptischen Einschätzungen freilich hat es im Laufe der Jahre nicht gefehlt. Auch heute gibt es vor allem im Zusammenhang mit den Problemen des Einigungsprozesses kritische Stimmen. Aber schon 1956, in seiner Verbotsentscheidung der Kommunistischen Partei Deutschlands, hat das Bundesverfassungsge­richt die Legitimität des Grundgesetzes in überzeugender Weise darge­legt. Was die Verfassungsrichter damals formulierten, gilt bis heute. Die wichtigsten Sätze seien deshalb zitiert:

 

"Die Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland ist legitim. Sie ist es nicht nur deshalb, weil sie auf demokratische Weise zustande gekom­men und seit ihrem Bestehen immer wieder in freien Wahlen vom Volke bestätigt worden ist. Sie ist es vor allem, weil sie - nicht not­wendig in allen Einzelheiten, aber dem Grundsatze nach - Ausdruck der sozia­len und politischen Gedankenwelt ist, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspricht. Sie beruht auf einer ungebrochenen Tradition, die - aus älteren Quellen ge­speist - von den großen Staatsphilosophen der Aufklärung über die bürgerliche Re­volution zu der liberal-rechtsstaatlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts geführt und der sie selbst das Prinzip des Sozialstaates, d.h. das Prinzip der sozialen Verpflichtung hinzugefügt hat. Die sich hieraus ergebenden Wertsetzungen werden von der über­großen Mehr­heit des deutschen Volkes aus voller Überzeugung bejaht. Hieraus er­wächst dieser Ordnung die innere Verbindlichkeit, die das Wesen der Legitimität ausmacht."

 

Besser kann man es wohl kaum formulieren. Denn jede Verfassung, jeder rechtliche Rahmen bleibt nur formal und realitätsfern, wenn die Bürger des Staates ihn nicht zu ihrer Sache machen. Auch heute noch gilt, was Theodor Heuss zum Verhältnis von Bürger und Recht gesagt hat: "Niemand ist dem heutigen Rechtsstaat abträglicher als ein scheuer Untertan, der Unrecht geschehen läßt und lammfromm erleidet. Da das Recht nicht wie frische Brötchen ins Haus getragen wird, muß es von jedermann mutig und verantwortungsbewußt er­kämpft werden."