Gustav Stresemann

 

Annäherungen an einen Realpolitiker

 

 

Gustav Stresemann ist trotz der beiden Reichspräsidenten Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg, trotz des damaligen Reichstagsabgeordneten Theodor Heuss und auch trotz des späteren Völkermörders Adolf Hitler wohl bis heute der bekannteste Politiker der Weimarer Republik geblieben. Obwohl er nur wenige Monate Kanzler und danach fünf Jahre lang Reichsaußenminister war, also keineswegs für längere Zeit die formale „Richtlinienkompetenz“ in der ersten deutschen Republik innehatte, hat er ganz wesentlich die Politik im traurigen Kapitel von Weimar bestimmt. Der Historiker Jonathan Wright nennt ihn deshalb zu Recht „Weimars größten Staatsmann“.

 

Er wandelte sich als Politiker vom Monarchisten zum Republikaner, vom deutsch-preußischen Nationalisten zum europäischen Patrioten – gleichwohl blieben seine Motive, Absichten und Ziele durch alle Wandlungen und politischen Wirren im Kern identisch. Sieht man von seinen frühen Jahren, von seinen Fehlleistungen in der Zeit des Ersten Weltkrieges vor allem ab, so ruhte, was immer er in der Politik tat und veranlasste, stets auf dem soliden Fundament echter Überzeugungen und abgewogenen Kalküls; Absicht und Ziel dieser Politik jedoch waren durchaus von Leidenschaft und emotionaler Prägung seiner Persönlichkeit bestimmt: vom glühenden Wunsch nach nationaler Einheit und Größe des Deutschen Reiches, wie er sie in seiner Kindheit und Jugend erlebt zu haben glaubte. Um ihretwillen scheute er auch vor allzu kühnen Entscheidungen und vor politischer Ranküne nicht zurück.

 

 

Herkunft

 

Gustav Stresemann wurde am 10. Mai 1878 als eines von acht Geschwistern geboren. Sein Vater betrieb im Südwesten Berlins ein Weißbier-Geschäft und hatte es durch harte Arbeit in langen Jahren zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht. Als er dennoch im Zuge der Industrialisierung sein Geschäft schließen musste, weil es der Konkurrenz der Großunternehmen nicht mehr gewachsen war, war dies sowohl eine schmerzliche als auch eine prägende Erfahrung für den Sohn Gustav, der er bei seiner späteren beruflichen Tätigkeit in Verbänden der Industrie stets eingedenk blieb.

 

Die Familie Stresemann hat eine lange liberale Tradition. Schon der Großvater war ein „Achtundvierziger“ gewesen, der Vater war ein Anhänger von Eugen Richter, dem Führer der Freisinnigen. Es wird berichtet, daß Gustav auf dem Heimweg von der Schule häufig einen Umweg in Kauf nahm, um am Hause Richters vorbeizugehen und den großen Mann eventuell erspähen zu können.

 

Gustav war das begabteste unter den acht Geschwistern; er durfte deshalb als einziges das Realgymnasium besuchen und später ein Studium absolvieren. Er war eher ein zurückhaltender, introvertierter Schüler, der sich besonders gern mit den Klassikern, vor allem mit Goethe, aber auch mit Geschichte und Politik, hier vornehmlich mit Napoleon und Bismarck, befasste. Seine Mutter nannte ihn den „Traumjörg“. Unter diesem Titel veröffentlichte er 1920 ein Bändchen mit von ihm selbst verfaßten Gedichten.

        

Seine journalistischen Fähigkeiten erregten schon bei seinen Lehrern Aufsehen. Seine musisch-künstlerisch inspirierten Aufsätze und Rezensionen nötigten selbst Fachleuten Respekt ab, wenn sie auch einen leicht romantisierenden Hang zum Kitschigen zunächst nicht unterdrücken konnten.

        

Nach dem Abitur studierte er in Berlin und Leipzig das damals noch recht ungewöhnliche Fach der Nationalökonomie und legte 1900, zweiundzwanzigjährig, seine Doktorarbeit zum Thema „Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäftes“ vor. Er hatte sich in seinem Studium, getreu liberaler Tradition, den Reformburschenschaften „Neo-Germania“ und „Suevia“ angeschlossen.

        

Mit der Wahl seines Studienfaches hatte Stresemann Gespür für zukunftsorientierte Themen bewiesen; das gleiche Talent zeigte er bei der Wahl seines Berufes. Er ging in das damals noch sehr junge Verbandswesen der Wirtschaft. 1902 wurde er Syndikus des „Sächsischen Industriellen-Verbandes“, der Dachorganisation der Fertigwaren-Industrie, die in Konkurrenz zum schwerindustriell orientierten „Zentralverband Deutscher Industrieller“ stand. Freilich konnte er von seinem Gehalt (1000 Reichsmark pro Jahr) den Lebensunterhalt kaum bestreiten; jedoch gelang ihm hier wie später in der Politik eine rasche Karriere, die er neben seinem politischen Engagement bis in die Anfangszeiten der Weimarer Republik im Auge behielt.

        

1903 heiratete Stresemann die bildschöne Käthe Kleefeld, Tochter eines jüdischen Fabrikanten aus Berlin, mit der er bis zu seinem Tode eine glückliche Ehe führte. Die Söhne Wolfgang und Joachim wurden in (national)liberaler Tradition erzogen. Auf frühen Fotografien der beiden sieht man sie in Matrosenanzügen, was die Übereinstimmung der Familie mit den Flottenaufrüstungs- und Großmachtplänen des Kaisers und seines Großadmirals von Tirpitz verdeutlichen sollte.

        

Was immer Stresemann in seinen jungen Jahren anpackte, alles hatte und behielt ein wenig den Geruch kleinbürgerlichen Miefs. Er wurde sich dieser Tatsache später durchaus bewusst, und im Laufe der Jahre gelang es seiner Intelligenz und Tatkraft, die Relikte kleinbürgerlicher Erziehung weitgehend hinter sich zu lassen. Jedoch legte er niemals ganz seine Affinität zu bodenständiger Lebensart ab. Er bekannte sich als weltberühmter Politiker durchaus zu seinem Milieu, was manche Zeitgenossen und Biographen veranlasste, ihn für kleinkariert zu halten. Dies jedoch war er trotz seines volkstümlichen Habitus gewiß nicht. Das freimütige Bekenntnis zu seiner Herkunft, die Annahme seiner Sozialisation, machten ihn sympathischer als viele seiner politischen Weggefährten, die nicht selten eben deshalb auf ihn herabschauen zu können glaubten. Indes stand ihm das Kleinbürgerliche wohl doch lange Zeit dabei im Wege, seine wirklichen Qualitäten hervortreten zu lassen.

 

 

Der Weg in die Politik

 

In seiner Jugend begeisterte sich Stresemann für Friedrich Naumann und dessen national-soziales Programm. Sozialer Ausgleich und die stärkere Beteiligung der Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft waren und blieben ihm immer ein ehrliches Anliegen. Sein Wunsch nach nationaler Größe Deutschlands im Konzert der europäischen Staaten war indessen mindestens gleichermaßen ausgeprägt.

        

Beides, soziale und nationale Ziele, fand er in Naumanns „National-sozialem Verein“. Stresemann wurde alsbald Mitglied und blieb durch alle Misserfolge an der Seite Naumanns. Als dieser jedoch 1903 den Verein auflöste und sich der „Fortschrittlichen Volkspartei“ (FVP), der linksliberalen Nachfolgerin des Freisinns, anschloß, folgte Stresemann ihm nicht mehr. Vielmehr trat er der „Nationalliberalen Partei“ Ernst Bassermanns bei, die, monarchistisch ausgerichtet, traditionell in staatstragender Funktion stand, während die FVP strikt republikanisch und somit oppositionell orientiert war.

        

Stresemann traf seine politischen Entscheidungen, auch wenn sie emotional motiviert waren, zumeist nach der Maßgabe pragmatischer Vernunft. Er glaubte bei den Nationalliberalen mehr bewirken zu können als bei den Freisinnigen, zumal er die Misserfolge und die politische Bedeutungslosigkeit Naumanns und seines „National-sozialen Vereins“ aus unmittelbarer Nähe miterlebt hatte. Hinzu kam, daß Stresemann kein Mann der Opposition war. Seine Tatkraft und seine stets voran drängende Energie verlangten nach den Schalthebeln der Macht. Er wollte etwas bewegen und nicht in scheinbar aussichtsloser Opposition verkümmern. Die „Nationalliberale Partei“ schien ihm die angemessenen Voraussetzungen für seine Ambitionen zu bieten.

        

Dort machte er bald von sich reden: 1906 wurde er zum Stadtverordneten in Dresden und 1907 in den Reichstag gewählt. Im Jahr zuvor hatte er auf dem Goslarer Reichsparteitag mit einer Rede gegen die allzu „gouvernementale“ Haltung der Nationalliberalen für Aufsehen gesorgt. Er galt fortan als Rebell in der Innenpolitik, auch weil er die „Revolution“ von 1848 positiv würdigte und sie nicht zugunsten der Bismarckschen Leistungen geringschätzte. Dies war für einen Nationalliberalen durchaus nicht selbstverständlich. Hinzu kamen sein sozialpolitisches Engagement und die eindeutige Sympathie für eine konstitutionelle Monarchie, in der die Regierung in erster Linie dem Parlament und nicht dem Kaiser gegenüber verantwortlich sein sollte – was ihn dem rechten Flügel der Partei überaus suspekt machte. Jedoch wurde er durch ein ebenso klares Eintreten für eine Kolonial- und Rüstungspolitik nationaler Stärke wiederum auch für die Rechte akzeptabel, wodurch er in eine heikle Position der labilen Balance geriet, die er freilich virtuos zu behaupten verstand. Diese Position hat er auch später in der von ihm selbst gegründeten „Deutschen Volkspartei“ (DVP) der Weimarer Republik stets beibehalten, bis der Balanceakt kurz vor seinem Tode 1929 schließlich doch scheiterte.

        

Nach Stresemanns Einzug in den Reichstag erkannte der damalige Fraktions- und Parteivorsitzende der Nationalliberalen, Ernst Bassermann, alsbald dessen politische Begabung. Er schätzte die rhetorischen Fähigkeiten und die Brillanz der Argumentation, die Stresemann in politischen Debatten entwickelte. Auch seine „Verschlagenheit“, wie Theodor Eschenburg es nennt, nötigte Bassermann durchaus Respekt ab, wogegen andere eben deswegen eher ablehnend Stellung zu dem mit 28 Jahren jüngsten Reichstagsmitglied bezogen.

        

Bassermann indes sah in Stresemann bald seinen Nachfolger und protegierte ihn, wo er nur konnte. In der Öffentlichkeit sprach man von ihm gelegentlich schon als dem „Kronprinzen“ der Nationalliberalen.

        

1912 allerdings, als er seinen Wahlkreis an den Kandidaten der Sozialdemokratie verlor, schien die steile Karriere Stresemanns ein jähes Ende zu nehmen. Indessen ließ er sich nicht entmutigen und zog zwei Jahre später bei einer Nachwahl wieder in den Reichstag ein, um sein ehrgeiziges politisches Wirken fortzusetzen.

 

 

„Ludendorffs junger Mann“

 

Stresemann gehörte nicht zu den Kriegstreibern; als jedoch 1914 der Krieg ausbrach, gehörte er zu den begeistertsten Anhängern weitgesteckter Kriegsziele: Belgien sollte unter deutsche Oberherrschaft gestellt, Belfort, das Erzbecken von Longwy und Brie sowie die französische Kanalküste bis Calais sollten annektiert werden; im Osten sollten Polen, die baltischen Länder und die Ukraine von Russland abgetrennt und als autonome Gebiete an Deutschland oder Österreich-Ungarn angeschlossen werden; in Zentralafrika sollte ein großes deutsches Kolonialgebiet unter Einschluß des belgischen und französischen Kongo entstehen.

        

Diese von nationaler Überheblichkeit geprägten Vorstellungen, die heute nur noch schwer nachzuvollziehen sind, hatte keineswegs nur er allein, er teilte sie mit Politikern und Intellektuellen aus allen Lagern. Da er selbst aus gesundheitlichen Gründen nicht ins Feld einrücken musste, Bassermann jedoch als Rittmeister der Landwehr die Uniform anzog, wurde Stresemann bald der Wortführer der Nationalliberalen im Reich. Sein fast naives Zutrauen zum Militär als einer unpolitischen, aber absolut vaterlandstreuen Institution ließ seine Bewunderung für die Generäle, besonders für den Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und seinen Generalquartiermeister Erich Ludendorff, den strategischen Kopf der deutschen Streitkräfte, ins nahezu Religiöse steigen.

        

Bei allem nationalen Streben nach deutscher Weltmachtstellung und Unangreifbarkeit verlor er die näher liegenden politischen Ziele indes nicht aus den Augen. Im Gegensatz zu bedeutenden Kreisen vor allem in der Ruhrindustrie wollte er mit dem erhofften Sieg im Kriege innenpolitische Forderungen der Demokratisierung verbinden, zum Beispiel die Abschaffung des preußischen Dreiklassen-Wahlrechts. Die Sorge der konservativen Kreise in seiner Partei, mit einer solchen Wandlung der innenpolitischen Verhältnisse werde die gesamte alte Ordnung fallen, teilte er nicht. Vielmehr glaubte er gerade dadurch die Monarchie retten zu können.

        

Sowohl seiner Absicht, im Krieg das Äußerste zu erreichen, als auch seinen innenpolitischen Reformvorstellungen schien ihm der konservative Kanzler Bethmann-Hollweg im Wege zu stehen. Deshalb betrieb er 1917, als die Entscheidung des Kriegs praktisch schon gegen Deutschland gefallen war, zusammen mit dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger den Sturz des Kanzlers. Erzberger hatte zwar ganz andere Gründe für die Ablösung Bethmanns - er wollte die „Friedensresolution“ der Sozialdemokraten, des Zentrums und der Linksliberalen durchbringen, wobei ihm der Kanzler hinderlich zu sein schien -, jedoch hielten diese diametral entgegengesetzten Absichten keinen der beiden davon ab, gegen Bethmann an einem Strange zu ziehen. Nur war Erzberger der Gewieftere. Er manövrierte die Nationalliberalen im Interfraktionellen Ausschuß des Reichstages, der zur überparteilichen Festlegung der Kriegszielpolitik gegründet worden war, aus, setzte die Friedensresolution und damit die Forderung nach einem Verhandlungsfrieden durch und ließ Stresemann in der politischen Isolation zurück.

        

Indessen hatte der diese Isolierung sich durchaus auch selbst zuzuschreiben. Er hatte laviert, wo er nur konnte, wollte einmal im Ausschuß mitarbeiten, dann wieder nicht, stellte Forderungen, die nicht einmal er selbst für annehmbar halten konnte, und verscherzte sich schließlich alle Sympathien.

        

Deshalb wollte auch der letzte Kanzler der deutschen Monarchie, Prinz Max von Baden, den unsicheren Kantonisten im Oktober 1918 nicht in seiner Regierung haben. Überdies wusste man, daß Stresemann stets alle parlamentarischen Erwägungen unverzüglich dem Stabschef Ludendorff zu hinterbringen pflegte. Er war im In- und Ausland als „Ludendorffs junger Mann“ diskreditiert, was ihn für eine Beteiligung an einer Regierung, die einen Frieden aushandeln sollte, vollends als untauglich erscheinen ließ.

        

Stresemann forderte bis zuletzt den Siegfrieden. Seit 1917, dem Tode Bassermanns, war er nun auch gewählter Vorsitzender der nationalliberalen Reichstagsfraktion. Sein Starrsinn und seine völlige Fehleinschätzung der Kriegslage fielen deshalb auf die gesamte Partei zurück. Erst als er im Oktober 1918 von einem Vertreter der Obersten Heeresleitung über die hoffnungslose militärische Situation unterrichtet wurde, beugte er sich den Realitäten.

        

Was dann folgte, musste er ertragen, ohne etwas ändern zu können: die Kapitulation und das Waffenstillstandsabkommen von Compiègne, den Zusammenbruch der Monarchie und die Bildung der sozialistischen Revolutionsregierung. Er hatte durch innenpolitische Reformen und außenpolitische Siege die Monarchie und die Grundlagen der alten Ordnung retten wollen, nun stand er vor einem Scherbenhaufen.

        

Man mag über Stresemanns katastrophale Fehleinschätzungen und sein „Finassieren“ gegenüber den Mehrheitsparteien SPD, FVP und Zentrum denken wie man will, man mag Erklärungen und Entschuldigungen finden, die den Zeitgeist und die Geister (oder Gespenster) in seinem Gefolge bemühen, man mag die Verhältnisse bezichtigen, die nun einmal nicht so gewesen wären – um eines kommt man nicht herum: Stresemann hat im Ersten Weltkrieg eine (vorsichtig formuliert) überaus unglückliche Figur gemacht. Matthias Erzberger nannte ihn einen „politischen Laubfrosch“, Philipp Scheidemann, der erste Regierungschef der Republik, bezeichnete ihn als „einen politischen Bankrotteur, der Anschluß an einen zahlungsfähigen Kompagnon“ sucht.

        

Es mag zynisch klingen, wenn man die Jahre 1914 bis 1918 angesichts der schrecklichen Kriegsereignisse Stresemanns politische Lehrjahre nennt. Aber leidenschaftslos betrachtet waren sie es gleichwohl. Er hatte sich in eine Aufgabe gestürzt, unterstützt von seinem Mentor Bassermann, allein seinem rhetorischen Talent und seinem taktischen Geschick vertrauend. Er konnte damit viele seiner Konkurrenten blenden, der Situation jedoch war er keineswegs gewachsen. Er war einer der absoluten Verlierer bei einer Niederlage auf der ganzen Linie, die einem seit langer Zeit morschen System endgültig den Garaus machte.

        

Bei aller politischen Läuterung, die diese Niederlage für ihn bewirkte, gelang es ihm aber noch nicht, dem Überholten wirklich den Rücken zu kehren. Die Tragödie des Ersten Weltkrieges hatte bei Stresemann zunächst lediglich an der Oberfläche rationaler Erwägungen die politische Katharsis zur Folge.

 

 

Parteivorsitzender

 

Als sich die erste deutsche Republik konstituierte, trat für viele unerwartet eine neue Partei auf den Plan: Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblattes, die Professoren Ernst Troeltsch und Alfred Weber, Bruder des Soziologen Max Weber, sowie andere liberale Intellektuelle riefen zur Gründung einer demokratischen Partei auf, die sich von den alten „bankrotten“ Parteien deutlich unterscheiden sollte. Diese Aktion sollte nicht nur die alte FVP, sondern das linksliberale Klientel aller bisherigen Parteien ansprechen. Auch um die Nationalliberalen der Kaiserzeit, zumindest um ihren linken Flügel, wurde bewusst geworben.

        

Stresemann hatte mit einer solchen Gründung nicht gerechnet. Zunächst setzte er auf vorsichtige Annäherung, musste jedoch bald einsehen, daß ihn seine Politik im Weltkrieg zu sehr belastete, als daß er eine Chance zur Aufnahme und vor allem zur Einflussnahme gehabt hätte. Nachdem er in den Fusionsverhandlungen der ehemaligen Nationalliberalen mit der Fortschrittspartei zugunsten der neuen „Deutschen Demokratischen Partei“ (DDP) eine entscheidende Niederlage erlitten hatte und sich sogar der ehemalige Reichsvorsitzende der Nationalliberalen, Robert Friedberg, der republikanischen Partei anschloß, blieb ihm keine andere Wahl, als Mitte Dezember 1918 seinerseits die verbliebenen Nationalliberalen zu sammeln und eine gegen die Republik, für die Wiederherstellung der Monarchie eingestellte Partei, die „Deutsche Volkspartei“ (DVP) zu gründen. Er wurde auf dem Gründungsparteitag einstimmig zu ihrem Vorsitzenden gewählt, der er bis zu seinem Tode 1929 blieb.

        

Die „Partei Stresemann“, wie sie der Historiker Edgar Stern-Rubarth nannte, war entstanden, gleichzeitig aber auch das verhängnisvolle Schisma der Liberalen in der Weimarer Republik, die nur eine Fusion zu wirklichem Einfluß und vielleicht entscheidender Bedeutung hätte führen können.

        

Stresemann sagte über die Differenzen zwischen Demokraten und DVP: „Uns trennt nur der Unterschied in der Bewertung der Gefühle, der Massenpsychologie, in der Ehrfurcht vor dem, was anderen teuer ist. Das Unverständnis für die Imponderabilien bei den Demokraten ist unser einziger Gegensatz. Ich lasse mich dabei von meinen eigenen Gefühlen leiten, die es mir gestatten, die Gefühle jener ganzen breiten Bürgerschicht mitzuempfinden, die sich mit den Dingen abfindet, wie sie nun einmal liegen, die den Staat, wie immer er aussieht, als den ihren schützen und stützen will – die es aber nicht verträgt, wenn man ihr heute das verunglimpft, was sie gestern heilig gehalten hat. Und wenn auch dieses Gestern manche Fehler und Mängel enthalten hat, so war es doch zugleich eine Zeit unserer glanzvollsten Entwicklung; es ist deshalb vollkommen natürlich, daß viele Menschen diese Zeit und ihr eigenes Erleben in ihr mit dem System und vor allem mit den Zeiten identifizieren, unter denen dieses Erleben stand.“  

        

Sein emotionaler Monarchismus war kurz nach dem Ersten Weltkrieg noch viel zu stark ausgeprägt, als daß er eine strikt republikanische, liberaldemokratische Politik hätte unterstützen können. Allenfalls hätten taktische Erwägungen ihn zum Schein auf die Linie der Republik einschwenken lassen, was bald darauf tatsächlich der Fall sein sollte. Der amerikanische Historiker Henry Ashby Turner sagt zu dieser Haltung: „In dieser Hinsicht verhielt er sich wie viele seiner deutschen Zeitgenossen, die das blühende und mächtige Kaiserreich der schwachen und ungesicherten Republik gegenüberstellten, ohne zu erkennen, daß die Belastungen der Republik zum großen Teil dem Versagen des Kaiserreiches zuzuschreiben waren.“

        

Fürs erste war Stresemann ohnehin nicht gefordert, sich für oder gegen die Regierungsverantwortung in der Republik zu entscheiden. Die Wahlen zur Nationalversammlung von 1919 ermöglichten eine Koalition aus Sozialdemokraten (SPD), Zentrum und DDP, die fortan die „Weimarer Koalition“ genannt wurde. Sie hatte sich schon bei der Friedensresolution 1917 abgezeichnet. Die DVP erhielt immerhin 4,4 %, was bei der schlechten Ausgangslage kaum erwartet worden war.

        

Schon in den ersten Beratungen der Nationalversammlung gab Stresemann, der mit seiner DVP, der „Deutschnationalen Volkspartei“ (DNVP) und der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei“ (USPD) zusammen den Großteil der wirkungslosen Opposition bildete, zu erkennen, daß er gewillt war, die republikanischen Spielregeln zu akzeptieren. Er hatte sich gegen Bestrebungen des rechten Flügels in seiner Partei, der die Fusion mit der DNVP anstrebte, erfolgreich zur Wehr gesetzt. Als liberal Denkender, der er trotz allem war, waren ihm einige Erzkonservative in der DNVP zutiefst zuwider. Zudem hatte ihn die empörte Reaktion der Öffentlichkeit, aber auch eines Teils der eigenen Partei auf sein törichtes Glückwunschtelegramm zum Geburtstag des ehemaligen Kronprinzen gezeigt, daß realistische Politik gegen die republikanische Staatsform bis auf weiteres nicht zu machen war. Also schwenkte er verbal schon bald ein und sagte am 13. April 1919 vor dem ersten Parteikongreß der DVP: „Wir müssen uns auch des einen klar sein, daß Großdeutschland nur zu schaffen ist auf republikanischer Grundlage.“ Dennoch blieben natürlich die Farben der Partei schwarz-weiß-rot.

        

Der Versailler Friedensvertrag, wie ihn die Alliierten vorlegten, war für alle Parteien in Deutschland eine große Enttäuschung. Reparationszahlungen und Gebietsabtretungen in demütigendem Ausmaß wurden gefordert, und die Kriegsschuld wurde den Deutschen und ihren Verbündeten allein angelastet. Dieser Vertrag schien unannehmbar; die Alliierten  verlangten jedoch ultimativ die bedingungslose Annahme bis zum 23. Juni 1919, 18 Uhr, andernfalls sollte Deutschland besetzt werden.

        

Die Regierung Scheidemann, mit ihr der DDP-Innenminister Hugo Preuß, aus dessen Feder die Weimarer Verfassung stammte, trat zurück. DNVP, DVP und die Mehrheit der DDP lehnten die Annahme ab. Nach langen Verhandlungen gelang es dem DVP-Fraktionsvorsitzenden Rudolf Heinze, die Formel für die Regierung Bauer (SPD) zu finden: Das Kabinett sollte durch bedingungslose Annahme die Gefahr einer Besetzung abwenden, während die Oppositionsparteien als Gegenleistung sich bereiterklären sollten, die vaterländische Gesinnung derer, die diesen Schritt unterstützten, nicht in Zweifel zu ziehen. Auf dieser Grundlage unterwarf sich die Regierung den alliierten Bedingungen.

        

Stresemann schob bei aller realpolitischen Vernunft die Schuld an dem „Diktat von Versailles“ der Republik zu, was wesentlich dazu beitrug, daß die neue Verfassung im August 1919 gegen die Stimmen der DVP-Abgeordneten verabschiedet wurde. Ein Umstand, der ihm im Verlauf seiner Wandlung zum „Vernunft-Republikaner“ immer wieder große Schwierigkeiten verursachen sollte.

        

Gleichwohl war Stresemann einer der wenigen Politiker im rechten Lager, die schon 1920 die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten anstrebten. In einem Brief vom 4. Februar schrieb er: „Ich kann mir wirklich nicht denken, daß es Leute in verantwortlicher politischer Stellung gibt, die sich die Entwicklung so denken, daß wir heute gut daran täten, die Sozialdemokraten in dauernde verantwortungslose Opposition zurückzustoßen und sie damit unzweifelhaft in das Lager der Unabhängigen und Bolschewisten hinüberzutreiben.“  

        

Allerdings war diese kluge Einsicht schon bald wieder vergessen. Stresemann unterstützte Mitte März 1920 zunächst den Putsch des ostpreußischen Beamten Wolfgang Kapp und des Generals Walther von Lüttwitz und erhoffte sich davon die Wiederherstellung der Monarchie. Als aber deutlich wurde, daß der Putsch durch die konsequente Haltung der Regierungsparteien einerseits und durch einen eilig von den Gewerkschaften mobilisierten Generalstreik andererseits zusammenbrechen würde, lavierte Stresemann in Erklärungen und Memoranden, bis er seine Position so zurechtgestutzt und verklausuliert hatte, daß daraus trotz allem ein Bekenntnis zur Republik abgelesen werden konnte.

        

Jedoch hielt den unverbesserlichen Monarchisten auch diese Erfahrung nicht davon ab, am 28. März 1920 zu äußern: „Ich meine, wir wollen uns darüber klar sein: keine Parallele mit dem Geschehen des 13. März [als Kapp den Putsch versuchte], aber wenn unser Herrgott und das Schicksal uns einen Menschen schickt, der auch einmal, ohne sich an alle Paragraphen von Weimar zu halten, uns wieder ein großes Deutschland schüfe, dann würde unsere Partei – so hoffe ich – ihm dieselbe Indemnität gewähren, wie die Väter der Nationalliberalen sie einem Bismarck gewährt haben.“ Als dieser Zustand einzutreten schien, lebte Stresemann nicht mehr; allerdings hätte er die Umstände der nationalsozialistischen Machtergreifung gewiß nicht gebilligt.

        

Bei der Wahl im Juni 1920 verdreifachte die DVP ihre Stimmen. Stresemanns Voraussage, die ehemaligen Anhänger der Nationalliberalen würden den Demokraten bald den Rücken kehren und zur DVP kommen, hatte sich bewahrheitet. DDP und SPD verloren entscheidend.

        

Da die SPD die stark gewachsene USPD mit in die Regierung nehmen wollte, dies jedoch von den bürgerlichen Parteien abgelehnt wurde, kam es zu einer Minderheitsregierung von Zentrum, DDP und DVP unter Konstantin Fehrenbach (Zentrum). Heinze ging als Minister ins Kabinett, was Stresemann neben seinem Vorsitz im Zentralvorstand der Partei nun auch den Fraktionsvorsitz einbrachte, den bis zu seiner Wahl zum Kanzler 1923 behielt.

        

Die Jahre bis 1923 zeigten die vollen Auswirkungen der Reparationslasten: Die Inflation stieg in schwindelnde Höhen, die Stimmen der Rechtsradikalen wurden immer lauter, die Reichswehr bereitete sich auf die Mobilmachung vor, die Linke versuchte in Hamburg, Thüringen und Sachsen das Vorspiel zur Revolution, und die Politiker waren hilfloser denn je. Nur der DDP-Außenminister Walther Rathenau vermochte zeitweilige Verhandlungserfolge zu erreichen, was 1922 zum Vertrag von Rapallo führte, der immerhin gegenüber der Sowjetunion eine Absicherung des Reiches bedeutete.

        

Stresemann hatte mehrfach gehofft, in die Regierung eintreten zu können, was jedoch im wesentlichen an der Abneigung scheiterte, die der Zentrumspolitiker Josef Wirth, Fehrenbachs Nachfolger als Kanzler, gegen ihn hatte. Die Krise indes spitzte sich immer mehr zu. Matthias Erzberger und Walther Rathenau wurden von nationalistischen Rechtsextremisten ermordet, und am 10. Januar 1923 besetzten die Franzosen und die Belgier das Ruhrgebiet, was sie mit dem Rückstand von Reparationslieferungen begründeten.

        

In der DVP hatte sich zwischenzeitlich die Industrie etabliert. Hugo Stinnes, Schwerindustrieller und reichster Mann Deutschlands, machte seinen Einfluß gegen Stresemann, der eher die Interessen der Leichtindustrie förderte, geltend. Der Parteivorsitzende konnte diesen Angriff noch abwehren, indem er geschickt Repräsentanten auch anderer Industrie- und Landwirtschaftsverbände in Schlüsselpositionen brachte. Später indes, als die Energie und Tatkraft Stresemanns durch seine Staatsämter gebunden waren, geriet die Partei außer Kontrolle und verkam zum reinen Lobbyistenverein. Aber schon 1922/23 war die DVP keine liberale Partei im Sinne einer freiheitlichen Orientierung mehr. Sie hatte zwar noch liberale Persönlichkeiten in ihren Reihen, allen voran der Parteivorsitzende selbst, jedoch schwand deren Einfluß mehr und mehr, und die DVP wurde zum Wahlverein der Industrie.

        

Stresemann versuchte das programmatische Defizit in der DVP durch die publizistische Propagierung liberaler Themen und Positionen in dem von ihm herausgegebenen Wochenblatt „Deutsche Stimmen“ und auch in der von ihm beeinflussten Berliner Tageszeitung „Die Zeit“ zu beheben, jedoch bildete dies Engagement kein ausreichendes Gegengewicht gegen eine mit liberalen Ansprüchen nicht mehr vereinbare Parteipolitik.

        

Den bestimmenden Einfluß der Industrie musste die DVP sich auch deshalb gefallen lassen, weil sie an chronischem Finanzmangel litt und auf die Zuwendungen der Industriellen angewiesen war - was Stresemann später dazu veranlasste, Wahlkampfkostenerstattung vom Staat zu fordern.

        

Zunächst war an eine stärkere Belastung des Staatshaushaltes aber nicht zu denken. Es ging darum, die Reparationen mit den Alliierten neu auszuhandeln und die Inflation zu stoppen. Da die Regierung den passiven Widerstand im Ruhrgebiet finanzierte, ergab sich ein zusätzlicher Kostenfaktor, der auf Dauer nicht zu bewältigen war.

        

Als auch der von Parteien unabhängige Mann der Wirtschaft, Wilhelm Cuno, sich als Kanzler diesen Belastungen nicht mehr gewachsen zeigte, beauftragte Reichspräsident Friedrich Ebert den Vorsitzenden im Auswärtigen Ausschuß des Reichstages Gustav Stresemann am 12. August 1923 mit der Bildung einer neuen Regierung. Der „Simplizissimus“ feierte ihn auf seinem Titelblatt voreilig als rettenden Engel. Und auch der linksliberale Chefredakteur des Berliner Tageblattes, Theodor Wolff, der Stresemanns Eintritt in die DDP 1918 noch verhindert hatte, unterstützte den anscheinend nunmehr zum Republikaner geläuterten Mann.

 

 

Kanzler im Schlüsseljahr 1923

 

Der Grund dafür, daß Stresemanns Politik derjenigen fast aller anderen Persönlichkeiten in den Regierungen der Weimarer Republik überlegen war, liegt darin, daß er ein zielgerichtetes Konzept hatte, an dem er durch alle Irrungen und Wirrungen festhielt. Bei allen taktischen Winkelzügen, die im Laufe der Zeit notwendig wurden: Weder als Kanzler noch als Außenminister gab er dieses Konzept auf. Im Gegenteil: In der Verteidigung seiner Ziele erwies er sich als politischer Stratege von hohen Graden, dem keiner seiner Widersacher sich gewachsen zeigte.

        

Seine grundlegenden politischen Überzeugungen hatte er schon vor seiner Bestellung zum Kanzler mit folgenden Worten umrissen: „Unser Leben und Sterben hängt nicht davon ab, ob wir eine Goldmilliarde Mark mehr oder weniger zahlen, ob wir einige Jahre später oder früher die Grundlage für ein neues wirtschaftliches Emporkommen gewinnen. Davon aber, daß Rhein und Ruhr deutsch bleiben, davon hängt unser Leben und Sterben ab. Über Höhe und Modalitäten der deutschen Zahlungen wird man sich mit Deutschland verständigen können, aber über ein Aufgeben des deutschen Rheinlandes gibt es für uns keine Verständigung.“

        

Später, in einem unglücklichen Brief aus dem Jahr 1925 an den ehemaligen Kronprinzen der Hohenzollern, präzisierte er seine einfache, aber von tiefer Überzeugung getragene politische Agenda: Er ergänzte die Lösung der Reparationsfrage und damit der Besetzung des Ruhrgebietes um den Schutz der Auslandsdeutschen, die Korrektur der Ostgrenzen, also die Wiedergewinnung Danzigs und des polnischen Korridors, und eine Grenzberichtigung in Oberschlesien. Als weiteren Schritt wollte er den Anschluß Deutsch-Österreichs betreiben.

        

Indessen war dieses politische Konzept zunächst nur die Kulisse einer Politik, vor der drängendere Fragen im Vordergrund standen. Die Inflation hatte den Dollarkurs eine Million Reichsmark überschreiten lassen. Die Finanzierung des passiven Widerstands an Rhein und Ruhr war nicht mehr zu leisten. Die Zahlungen jedoch zu beenden, barg das Risiko einer Reaktion von rechts, deren Anzeichen mancherorts schon deutlich zu Tage traten. Die Franzosen rüsteten nach den Worten des englischen Botschafters Lord d’Abernon für den Fall eines rechtsgerichteten Aufstands zum Einmarsch, und die Kommunisten hielten sich bereit, die Machtprobe mit der Republik zu wagen.

        

Sogar die Industriellen rieten in dieser Situation zu einem selbständigen Rhein-Staat, zu dessen Verwirklichung sie unautorisierte Verhandlungen mit Frankreich unter Leitung des Kölners Otto Wolff bereits begonnen hatten.

        

Stresemann, der mit einer großen Koalition (aus SPD, DDP, Zentrum und DVP) regierte, ignorierte diese Vorschläge und beabsichtigte seinerseits, den passiven Widerstand zu beenden, um die Finanzen zu entlasten und geeignete Voraussetzungen für Verhandlungen über eine Neuregelung der Reparationszahlungen und den Abzug der fremden Truppen aus dem Ruhrgebiet zu schaffen. Als der entsprechende Kabinettsbeschluß gefaßt war, verkündete Bayern sofort den Ausnahmezustand und drohte, sich aus dem Reichsverband auszuschließen. Zum Generalstaatskommissar in München wurde Gustav Ritter von Kahr bestellt, ein Vertrauensmann der Rechtsorganisationen. Daraufhin verhängte Ebert den Ausnahmezustand über das gesamte Reich und übertrug die vollziehende Gewalt Reichswehrminister Otto Gessler (DDP).

        

Indessen steigerte sich die Aufruhrstimmung gegen die Regierung mehr und mehr. Der Dollarkurs betrug Ende September 101 Milliarden Papiermark; in Küstrin wurde ein Putschversuch niedergeschlagen; Stresemann strebte ein Ermächtigungsgesetz an, das der Regierung Vollmacht für besondere finanzielle, wirtschaftliche und soziale Maßnahmen geben sollte. Außerdem sollte zur wirtschaftlichen Gesundung der Achtstundentag abgeschafft werden.

        

Die Sozialdemokraten, für die besonders die hinhaltende Politik gegenüber den verfassungbrechenden Bayern inakzeptabel war, traten aus der Regierung aus. Durch die Vermittlung Eberts konnte jedoch ein zweites Kabinett Stresemann gebildet werden, in dem Hans Luther, ein hoch befähigter Verwaltungsfachmann, Finanzminister wurde. Nachdem das Ermächtigungsgesetz schließlich am 13. Oktober 1923 vom Reichstag angenommen wurde, gelang es Luther, durch Einführung der Rentenmark, die nicht mehr auf Goldreserven, sondern auf Goldwert von Wirtschaftsgütern und Immobilien basierte, die Inflation einzudämmen.

        

Jedoch traten neue Belastungen bald an die Stelle der alten: In Sachsen und Thüringen waren die Kommunisten in die sozialistisch geführten Regierungen eingetreten. Sie bildeten proletarische Hundertschaften, die alsbald mit der Staatsgewalt aneinander gerieten. Bayern stand deshalb kurz vor dem Einmarsch nach Thüringen, womit der Bürgerkrieg und damit eine Intervention der Alliierten unvermeidlich geworden wären.

        

Edgar Stern-Rubarth beschreibt die Situation, der Stresemann sich im Oktober 1923 gegenüber sah, folgendermaßen: „In Bayern eine durch General von Lossow auf die bayerische Staatsregierung vereidigte Reichswehr? In Sachsen eine kommunistisch durchsetzte Landesregierung, die Betriebsräte-Kongresse nach russischem Muster veranstalten will? An der thüringischen Grenze die Landsknechte Ehrhardts? In Küstrin die Putschisten der ‚Schwarzen Reichswehr’? An den wirtschaftlichen Lebensadern Deutschlands französische Exekutionstruppen mit Zolllinie, Eisenbahnregie und Verkehrssperre gegen das Reich, dahinter Dorten und Genossen mit ihrer ‚Rheinischen Republik’? Es gehörte verteufelt viel mehr Nationalgefühl dazu, in jenen Tagen die Wahrheit zu sagen, als ein verzweifeltes Volk, an dessen Spitze man sich setzen konnte, zu irgendeinem Amoklauf zu veranlassen.“

        

Stresemann behielt die Nerven und führte. Er setzte die Regierungen in Sachsen und Thüringen ab, ließ die Reichswehr einrücken und vermied dadurch das Einschreiten Bayerns. Dies ließ die Sozialdemokraten, die ähnliche Maßnahmen gegen Bayern forderten, erneut aus der Regierung austreten. Einen von seiner eigenen Partei geforderten Rechtsruck durch die Aufnahme der DNVP in die Regierung wehrte Stresemann ab, wohl wissend, daß seine Verhandlungsposition gegenüber Frankreich und dessen starr an der Durchsetzung des Vertrages von Versailles festhaltenden Ministerpräsidenten Poincaré dadurch sehr viel schlechter geworden wäre.

        

Auch als General von Seeckt, der Chef der Streitkräfte, versuchte, die Führer der Reichswehr gegen die Regierung einzunehmen und selbst an das Ruder des Staates zu treten, verhinderte Stresemann durch seine kompromisslose Haltung, in der er entscheidend durch Ebert gestützt wurde, einen Sturz der Republik.

        

Seeckt lenkte schließlich ein und wurde nun selbst zum Befrieder der bayerischen Situation. Dort versuchten Hitler und Ludendorff am 8. November 1923 eine „Nationale Revolution“, die jedoch durch die Loyalität des Generals Otto von Lossow, des Befehlshabers der Reichswehr in Bayern, zu Seeckt im Keime erstickt wurde. Die Gefahr des Bürgerkrieges war damit gebannt.

        

Schließlich gelang es Stresemann noch, die Franzosen hinsichtlich seiner Absicht, eine Kommission zur Neuregelung der Reparationszahlungen einzurichten, zur Einwilligung zu bewegen. Danach stellte er im Reichstag die Vertrauensfrage. Die Sozialdemokraten entzogen ihm ihre Unterstützung, wodurch die rund einhunderttägige Kanzlerschaft Stresemanns am 23. November 1923 beendet wurde.

        

Friedrich Ebert sagte den Vertretern seiner Partei, der SPD, nachdem sie im Reichstag gegen Stresemann gestimmt hatten: „Was euch veranlasst, den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen vergessen, aber die Folgen eurer Dummheit werdet ihr noch zehn Jahre lang spüren.“ Es sollten mehr als zehn Jahre werden.

        

Theodor Eschenburg würdigt die Leistung Stresemanns als Kanzler mit folgenden knappen Worten: „Hätte Stresemanns politisches Wirken nach seiner Entlassung aus irgendeinem Grund ein Ende gefunden, allein seiner Leistung in den hundert Tagen seiner Kanzlerschaft wegen wäre er eine der bedeutendsten Erscheinungen der Weimarer Zeit.“

        

Diese Leistung hat Stresemann schon 1923 mit seiner Gesundheit bezahlt. Nachdem er unter äußerstem Einsatz seiner Physis und all seiner mentalen Fähigkeiten im Oktober eine eigenständige Rhein-Ruhr-Währung verhindert hatte, erlitt er seinen ersten körperlichen Zusammenbruch.

 

 

Außenminister in sieben Kabinetten

 

Stresemann hatte in seiner Zeit als Kanzler selbst auch das Außenministerium übernommen. Nicht nur durch diese Doppelfunktion, auch durch seine vorherige Tätigkeit als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Reichstag, hatte er sich trotz seiner monarchistischen Vergangenheit großes Vertrauen bei den Regierungen der Alliierten und bei ihren Botschaftern in Berlin erworben.

        

Als das erste Kabinett Marx (Zentrum) in der Nachfolge Stresemanns gebildet wurde, bat ihn die Zentrums-Fraktion ganz ausdrücklich darum, Außenminister zu bleiben. Man wusste um das Ansehen, das er im Ausland genoß. Schwierigkeiten bei seiner Außenpolitik, die auf immer neue Ausgleichsversuche mit den Siegermächten abgestellt war, um seine großen Ziele zu erreichen, machten ihm vor allem die DNVP und seine eigene Partei. Sie verdächtigten ihn zum Teil auch in der Öffentlichkeit, das „Schanddiktat“ von Versailles zu akzeptieren und gegen deutsche Interessen zu handeln. Er musste immer wieder seine ganze Autorität in die Waagschale werfen, um Gefolgschaft für seine Politik zu finden.

        

Stresemann war sich darüber klar, daß eine Konsolidierung des Deutschen Reiches und die Bemühungen um Anerkennung in Europa der Zustimmung auch der Rechten bedurften. Er glaubte die Konservativen durch seine außenpolitischen Erfolge auf die Seite der Republik ziehen und zur Akzeptanz ihrer Verpflichtungen den Siegermächten gegenüber bewegen zu können. So setzte er auf den „Primat der Außenpolitik“, den er mit dem Hinweis auf Bismarck, von dem der Ausdruck stammt, immer wieder beschwor. Alle seine großartigen außenpolitischen Leistungen sind diesem Politikverständnis zu verdanken; dennoch kam er seinen innenpolitischen Zielen dadurch kaum näher – im Gegenteil: abgrundtiefe Gräben zwischen rechts und links taten sich auf - zwischen Nationalisten und Europäern, Monarchisten und Demokraten, Konservativen und Sozialisten -, die nicht mehr zu überbrücken waren. Diese Entwicklung macht die tiefe Tragik seiner Politik aus.

        

Zu Beginn des Jahres 1924 trugen Stresemanns Bemühungen aus seiner Zeit als Kanzler Früchte. Das Reich konsolidierte sich wirtschaftlich und finanziell zusehends; die Bildung eines rheinischen Bundesstaates war kein Thema der Politik mehr; Belgien distanzierte sich von der französischen Okkupationsstrategie; England intervenierte dagegen mit Erfolg; die Wirtschaft des Reiches bildete mit der in den besetzten Gebieten zusammen wieder eine Einheit; der militärische Ausnahmezustand wurde aufgehoben und der Konflikt mit Bayern beigelegt.

        

Außenpolitisch war sein wohl wichtigster Erfolg, daß die von den Alliierten eingerichtete Reparationskommission, dem Antrag der Reichsregierung entsprechend, eine Sachverständigenkommission zur Neufestsetzung der Reparationsleistungen unter Leitung des amerikanischen Bankiers Charles G. Dawes einsetzte.

        

Das Dawes-Gutachten, das harte Reparationslasten mit Hilfe von „produktiven Pfändern“, zum Beispiel der Deutschen Reichsbahn, vorsah, aber auch den Abzug der Besatzungstruppen als Gegenleistung anbot, wurde von der Rechten einhellig abgelehnt, ja als ein „neues Versailles“ bezeichnet. Stresemann hingegen setzte sich für den Dawes-Plan ein, und seine DVP verlor bei den Wahlen am 4. Mai 1924 prompt einundzwanzig Sitze im Reichstag.

        

Auf der Londoner Konferenz zur Umsetzung des Dawes-Planes Anfang August 1924 konnte Stresemann amerikanische Anleihen erwirken, die die Zahlung der Reparationen erleichterten und, was wichtiger war, er erhielt vom französischen Ministerpräsidenten die Zusage zur Räumung der Ruhr binnen Jahresfrist. Außerdem wurden die möglichen Sanktionen durch die Siegermächte aufgrund einer eventuellen deutschen Verfehlung unter die Kontrolle einer internationalen Schiedskommission mit amerikanischem Vorsitz gestellt, was eine erneute Gebietsbesetzung wie ehedem durch die Franzosen für die Zukunft praktisch ausschloß.

        

Nach hartem innenpolitischem Ringen wurden die Ergebnisse der Londoner Konferenz im Reichstag angenommen – mit 48 deutsch-nationalen Stimmen. Damit waren der Kalte Krieg im Westen beendet und die Reichseinheit wieder hergestellt. Jedoch musste Deutschland einen hohen Preis zahlen. Die Verschuldung wuchs, was Arthur Rosenberg, radikaler Sozialist und zeitweise Reichstagsabgeordneter der Kommunisten (KPD), zu der Bemerkung veranlasste, das Reich sei „zu einer Art von Kolonie der New Yorker Börse geworden“.

        

Weitere Schwierigkeiten waren außenpolitisch zu bewältigen: Frankreich weigerte sich trotz der Abmachungen, angesichts der Gefahr eines Sturzes seines radikaldemokratischen Ministerpräsidenten Herriot, die erste Zone des Rheinlandes im Januar 1925 gemäß dem Dawes-Plan zu räumen. Lord d’Abernon, der englische Botschafter in Berlin, empfahl Stresemann, von sich aus die freiwillige Garantie der im Versailler Vertrag festgelegten Westgrenze, also den Ausschluß Elsaß-Lothringens aus dem Reich, anzubieten. Stresemann willigte sofort ein.

        

In Deutschland kam es aufgrund der französischen Haltung zu einer Regierungskrise und am 15. Januar 1925 zu Neuwahlen, in denen die DVP sechs Sitze zurückgewann. Der parteilose Finanzminister Hans Luther bildete ein neues Kabinett der Rechten, in dem Stresemann Außenminister blieb. Der verfasste alsbald ein Memorandum an die Alliierten, in dem er die freiwillige Annahme der Westgrenze, wie im Versailler Vertrag festgelegt, durch das Reich anbot. Das Memorandum hatte er vorher mit dem Kanzler besprochen, seinen Text aber erst nach der offiziellen Abfassung vorgelegt. Das führte zu einer Verstimmung in der Koalition, die Stresemann, nachdem er es strikt abgelehnt hatte, als Botschafter nach London zu gehen, nur durch seine Rücktrittsdrohung einigermaßen entschärfen konnte.

        

Am 28. Februar 1925 starb Reichspräsident Friedrich Ebert. Stresemann hätte als Nachfolger gern einen Mann der Mitte gesehen, um die Verhandlungen mit den Alliierten über den Vertrag in Bezug auf die Westgrenze, aber auch über eine sich andeutende Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (der nach dem Ersten Weltkrieg als Bestandteil des Versailler Vertrages von den Westalliierten zum Vermeidung neuer Konflikte gegründet worden war) zu erleichtern. Jedoch konnte er die Wahl des ehemals von ihm geschätzten Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg, des Kandidaten der Rechten, dessen Kandidatur er schließlich stillschweigend gebilligt hatte, trotz mancher Bemühungen nicht verhindern. Sein Verhältnis zum neuen Reichspräsidenten blieb kühl, allerdings traten seine Befürchtungen, Hindenburg könne seiner militärischen Vergangenheit und eindeutig deutschnational ausgerichteter Sympathien wegen zur unaufwiegbaren Belastung für die Verhandlungen des Sicherheitspaketes werden, nicht ein.

        

Im Oktober 1925 konnten in Locarno die Außenminister von Frankreich, England, Belgien, Italien, Polen, der Tschechoslowakei und Deutschland mit den Verhandlungen beginnen. Nach vierzehn Tagen war der Sicherheitspakt fixiert. Deutschland auf der einen Seite sowie Frankreich und Belgien unter der Garantie Englands und Italiens auf der anderen verzichteten auf eine gewaltsame Änderung ihrer Grenzen. Auch mit Polen und der Tschechoslowakei sollten Abkommen getroffen werden, die kriegerische Konflikte ausschließen sollten. Die erste Zone des Rheinlandes sollte nach Vertragsabschluß geräumt werden. Auch für den Eintritt in den Völkerbund wurde eine Regelung getroffen, die vor allem die besondere geographische Situation Deutschlands gegenüber der Sowjetunion berücksichtigte.

        

Am 19. Oktober 1925 billigte das Reichskabinett den Vertrag von Locarno. Nun setzte jedoch eine Hetzkampagne ungeahnten Ausmaßes gegen Stresemann ein, die vom „Pressezaren“ Alfred Hugenberg, einem Führer der Deutschnationalen, angezettelt wurde. Wie einst gegen Erzberger und Rathenau wurde mit primitivsten Mitteln Stimmung gegen den Reichsaußenminister gemacht. „Stresemann-Verwesemann“ hieß die Parole. Der indessen bot den Angriffen mit Erfolg die Stirn, so daß es trotz aller Diffamierungen Ende November zur Ratifizierung des Vertrages im Reichstag kam.

        

Ende Januar 1926 wurde die Kölner Zone vollständig geräumt, Anfang Februar stellte die Regierung Antrag auf Aufnahme in den Völkerbund. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wegen eines ständigen Sitzes im Völkerbundsrat, der dem Reich in Locarno zugesagt worden war, konnte dieses Problem durch eine Erweiterung der Sitze gelöst werden. Nun indes intervenierte die Sowjetunion, die der Annäherung des Deutschen Reiches an die Westmächte skeptisch gegenüberstand. Jedoch gelang es Stresemann, durch den Abschluß eines Neutralitätsabkommens mit Moskau, dem Berliner Vertrag vom 24. April 1926, auch die letzte Hürde zu nehmen.

        

Der Berliner Vertrag bedeutete zusammen mit dem bevorstehenden Eintritt Deutschlands in den Völkerbund den Höhepunkt von Stresemanns Außenpolitik. Es war ihm gelungen, Deutschland nach Osten und Westen abzusichern und er hoffte dadurch auch seine innenpolitischen Widersacher von der Richtigkeit seiner Politik überzeugen zu können. Dies jedoch blieb Illusion.

        

Nach dem Sturz Hans Luthers wegen des „Flaggenstreits“, der durch die Anordnung Hindenburgs mit der Gegenzeichnung des Kanzlers entstanden war, in den deutschen Handelsmissionen im Ausland neben der schwarz-rot-goldenen Flagge auch die schwarz-weiß-rote Handelsflagge mit der schwarz-rot-goldenen Gösch zu hissen, wurde Wilhelm Marx wieder Reichskanzler. Mit ihm wurde das Deutsche Reich am 10. September 1926 in den Völkerbund aufgenommen. Stresemann hielt in Genf seine wohl bedeutendste Rede, in der er sagte: „Der wird der Menschheit am meisten dienen, der, wurzelnd im eigenen Volke, das ihm seelisch und geistig Gegebene zur höchsten Bedeutung entwickelt, um damit, über die Grenzen des eigenen Volkes hinauswachsend, der gesamten Menschheit etwas zu geben, wie es die Großen aller Nationen getan haben, deren Namen in der Menschheitsgeschichte niedergeschrieben sind.“

        

Nach der Rede im Völkerbund traf sich Stresemann mit dem französischen Außenminister Aristide Briand zum Frühstück in Thoiry, einem Grenzdorf bei Genf, wobei beide eine „Gesamtlösung“ entwarfen, die eine vorzeitige Räumung aller besetzten Gebiete, auch des Saarlandes, vorsah. Allerdings kam es wegen des schwindenden politischen Einflusses Briands in Paris zunächst nicht dazu. Dennoch war die „Vision von Thoiry“ für Stresemanns innenpolitische Argumentation von großer Bedeutung.

        

Obwohl sich ihre Vision nicht erfüllen sollte, erhielten Briand und Stresemann zusammen mit dem britischen Außenminister Austen Chamberlain und dem Amerikaner Dawes (der den Preis schon im Jahre zuvor zuerkannt bekommen hatte, ihn aber erst jetzt annehmen konnte) am 10. Dezember 1926 den Friedensnobelpreis. Der Preis dokumentierte die internationale Anerkennung von Stresemanns Politik, national freilich wuchs sein Ansehen dadurch nicht.

        

Das Jahr 1927 war gekennzeichnet von Stagnation in der Außenpolitik, weil sich die Interessen der Staaten gegenseitig lähmten. Im Februar 1928 zerbrach die Rechtskoalition des Kanzlers Marx am Widerstand der DVP gegen ein neues, konfessionelles Reichsschulgesetz. Im Wahlkampf erlebte Stresemann, der in Bayern kandidierte, den immer dreister agierenden Terror der allmählich erstarkenden Nationalsozialisten, die skrupellos Stimmung gegen die Republik machten, am eigenen Leibe: Er musste eine Veranstaltung frühzeitig beenden, weil Rowdies der NSDAP in den Saal eindrangen.

        

Bei der Wahl verlor die DVP sechs Sitze. Die Regierungsbildung gestaltete sich überaus schwierig, weil die DVP-Fraktion einer Koalition mit der SPD im Reich nur zustimmen wollte, wenn auch in Preußen, wo der SPD-Ministerpräsident Otto Braun regierte, eine Aufnahme der DVP in die Regierung erfolgen würde. Diese Forderung wies die SPD entrüstet zurück, wonach auf Vorschlag Stresemanns vom SPD-Kanzlerkandidaten Hermann Müller ein Kabinett aus Ministern gebildet wurde, die zwar aus den Parteien der Großen Koalition kamen, ihren Fraktionen gegenüber aber nicht verantwortlich sein sollten.

        

Stresemann gab diese Empfehlung von der Bühlerhöhe im Schwarzwald aus, wo er sich zur Kur aufhielt. Das entsprechende Telegramm an Müller wurde deshalb der „Schuß von der Bühlerhöhe“ genannt. Stresemann hatte die Empfehlung an den Kandidaten der SPD ohne Rücksprache mit seiner Fraktion gegeben, was deren Vorsitzenden Ernst Scholz dazu veranlasste, den Parteivorsitzenden öffentlich zu maßregeln. Daraufhin drohte Stresemann am 30. Juli 1928 in einem Brief an Scholz mit seinem Austritt aus Partei und Fraktion. Nachdem die Partei ihn indes Ende Dezember noch einmal einstimmig zum Vorsitzenden wählte, wurde das Thema nicht wieder aufgegriffen, der Konflikt zwischen der Fraktion und dem Außenminister jedoch schwelte weiter.

        

Stresemann war von seiner Krankheit inzwischen so geschwächt, daß er sich diesem Konflikt nicht mehr stellen konnte. Schon im August hatte er nach der Unterzeichnung des „Kellog-Paktes“ zur Kriegsächtung in Paris einen erneuten Schwächeanfall erlitten und musste sich wieder in ein Sanatorium begeben. Als sich der Völkerbund im Herbst 1928 wiederum darauf einigte, eine internationale Konferenz von Sachverständigen zur Regelung der Reparationen einzuberufen, diesmal mit Deutschland als vollwertigem Mitglied, war damit Stresemanns letzte große Aufgabe angekündigt. Trotz erheblicher innenpolitischer Krisen und eines fast katastrophalen Rückgangs der Konjunktur, der vor allem Stresemanns Außenpolitik angelastet wurde, trotz des immer stärker werdenden Widerstandes der Deutschnationalen und großer Teile der eigenen Partei gegen seine Politik, konnte er die Voraussetzungen für erfolgreiche Verhandlungen der unter Leitung des Amerikaners Paul D. Young zusammentretenden Konferenz noch einmal sichern. Ihm gelang die Bildung einer großen Koalition unter Müller, acht Tage bevor die Sachverständigenkonferenz ihren Ausschußbericht, den Young-Plan, annahm. Der Plan bekräftigte die strengen Reparationsforderungen und bot als Gegenleistung die Räumung aller noch besetzten Gebiete an.  

        

Die deutsche Öffentlichkeit reagierte auf den Young-Plan mit größerer Entrüstung als auf den Dawes-Plan. Hugenberg und Hitler wollten ein Volksbegehren für eine strafrechtliche Verfolgung des Kabinetts wegen Landesverrats, falls der Plan angenommen würde.

        

Am 6. August 1929 reiste Stresemann nach Den Haag zur Konferenz über den Young-Plan. In Verhandlungen mit dem inzwischen in der Nachfolge Poincarés zum französischen Ministerpräsidenten ernannten Briand, die ihn die letzten gesundheitlichen Reserven kosteten, konnte Stresemann die Zusage zur Räumung aller noch besetzten Gebiete zum 30. Januar 1930 erwirken.

        

Am 9. September 1929 raffte sich der vom nahenden Tod gezeichnete Stresemann vor der Völkerbundsversammlung in Genf noch einmal zu einer großen Rede auf, in der er den Kabinettsbeschluß der Reichsregierung zur Annahme des Haager Ergebnisses vom 1. September 1929 erläuterte.

        

Am 3. Oktober, nach einer harten Auseinandersetzung am Vortag in der DVP-Fraktion, starb Gustav Stresemann an den Folgen eines Herzinfarktes.

 

 

Stresemann und die Folgen

 

Es ist oft darüber nachgedacht und geschrieben worden, ob und warum sich der glühende Monarchist Stresemann im Laufe der Weimarer Jahre zum Republikaner gewandelt oder auch – je nach Standpunkt – geläutert habe. Bei objektiver Würdigung der wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale dieses mit politischer Hochspannung geladenen Mannes kann man eine solche Fragestellung letztlich als nicht entscheidungsbedürftig betrachten. Ihm ging es darum, an der Macht maßgeblich beteiligt zu sein und für das Wohl und die Größe Deutschlands arbeiten zu können. Dabei musste er erkennen, daß nach 1918 eine solche Absicht mit monarchistischen Zielen nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen war. Also wurde er Republikaner. Dies fiel ihm um so leichter, als er vor allem in seinen außenpolitischen Bemühungen bald feststellen konnte, daß die Wiederherstellung deutscher Größe im internationalen Konzert besser mit pragmatischen Republikanern wie Ebert, Marx und Müller als mit verstockten Konservativen oder allzu utopischen Sozialisten zu bewerkstelligen war.

        

Dies alles mag dazu beigetragen haben, daß auch sein Fühlen, nicht nur sein Denken, republikanisch wurde – demokratisch war es schon zu Zeiten der Monarchie gewesen. Vielleicht können einige Hinweise für die Wahrscheinlichkeit der inneren Wandlung sprechen.

        

Der Mann, der noch 1925 dem ehemaligen Kronprinzen einen ergebenen Brief schrieb, in dem er seine Absicht des „Finassierens“ auf dem Weg zu seinen außenpolitischen Zielen erläuterte (was ihm in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit fast nur negativ angekreidet wurde), trat 1928 aus dem Kaiserlichen Yachtclub in Kiel, dem deutlichsten äußeren Symbol innerer Gesinnung aus. Mit der Begründung, daß ein Minister der Republik nicht Mitglied in einem monarchistischen Club sein könne.

        

Indes mag schon der Brief an den ehemaligen Kronprinzen Teil eines innenpolitischen „Finassierens“ gewesen sein, mit dem er die aufbegehrende Rechte in seiner Partei beruhigen wollte. Vielleicht wollte er 1928, in die andere Richtung zielend, es den Linken in der Koalition oder auch im Ausland recht machen. Dem Taktiker Stresemann wäre es jedenfalls dann zuzutrauen, wenn er sich davon etwas zur Unterstützung seiner Außenpolitik versprochen haben sollte.

        

Ein anderer Hinweis mag schwerer wiegen: Die schlimmsten Feinde der Republik, die Nationalsozialisten, musste er nicht nur im Jahre seines letzten Wahlkampfes 1929 erleben, nein, schon früher, zur Zeit der Morde an Erzberger und Rathenau und des Attentates auf Scheidemann hatten antisemitische Nationalisten ihn wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau mit primitivsten Mitteln angegriffen. Seine Wertschätzung für die eindeutig republikanischen Parteien wurde dadurch sicherlich größer. Es ist zu vermuten, daß die Verleumdungen durch die extreme Rechte ihn, der doch in letzter Instanz nur emotionale Motive für seine Politik der Vernunft hatte, tiefer beeindruckten und entschiedener Position beziehen ließen für eine akzentuiert liberale Politik, als er es zugeben wollte.

        

Schließlich sei hingewiesen auf seine Bemühungen aus den Jahren 1928/29, zusammen mit dem Vorsitzenden der DDP, Erich Koch-Weser, und mit Hilfe der „Liberalen Vereinigung“, in der von Beginn der Republik an überzeugte Liberale aus DVP, DDP, aber auch Parteilose und Mitglieder anderer Parteien vertreten waren, eine neue, eindeutig in der politischen Mitte angesiedelte Partei zu gründen. Dieses Vorhaben stellte er zugunsten der Verhandlungen über den Young-Plan, vor allem aber aus gesundheitlichen Gründen, zurück. Sein Tod ließ diese Pläne gegenstandslos werden. Es hätte einer ihm ebenbürtigen Persönlichkeit bedurft, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Und die gab es – zumindest unter den Liberalen am Ende der Weimarer Republik, wahrscheinlich aber auch in den anderen Parteien – nicht.

        

Henry Ashby Turner weist mit Recht darauf hin, daß der größte außenpolitische Triumph Stresemanns, die Verträge von Berlin und Locarno sowie der Eintritt des Reiches in den Völkerbund, zugleich seine größte innenpolitische Niederlage markiert. Dies ist bitter, aber wahr. Es war seine Absicht, die politische Rechte in Deutschland, die DNVP und große Teile seiner eigenen Partei, durch seine außenpolitischen Erfolge so zu beeindrucken, daß sie ihm auch innenpolitisch auf dem Weg zur Anerkennung der Republik folgte. Das Gegenteil hat er erreicht.

        

In einem Brief vom 13. März 1929 an seinen Parteifreund Wilhelm Kahl schrieb er resignierend: „Ich wollte die Brücke sein zwischen dem alten und dem neuen Deutschland, und ein Teil unserer Partei hat diese historische Mission unserer Partei auch erkannt. Andere können nur die alte Grammophonplatte spielen lassen und wollen immer wieder dieselbe Melodie hören.“ Und weiter: Die DVP ist „keine Partei der Weltanschauung mehr“, sondern „mehr und mehr zu einer reinen Industriepartei“ geworden. Diese Erkenntnis kam zu spät, die Partei war seiner Kontrolle bereits entkommen.

        

Woran lag es, daß die doch aus heutiger Sicht so imposanten außenpolitischen Leistungen bei der Rechten keinen Anklang fanden? Die Antwort ist einfach: Jeder Erfolg wurde durch harte Reparationsleistungen erkauft, durch die „Erfüllungspolitik“ des Versailler Vertrages und seiner Nachfolgeverträge. Diese Belastungen trieben das Reich in den Augen der Rechten wirtschaftlich, und damit politisch, tiefer in die Abhängigkeit von den Alliierten, vor allem vom „Erzfeind“ Frankreich, als es die Gegenleistungen vermeintlich aufwiegen konnten. Gewiß war diese Bewertung, wenn überhaupt, dann nur zu einem Teil richtig – schließlich hatte Deutschland es durch Stresemanns Außenpolitik wieder zu einer gewissen Gleichberechtigung im Konzert der Nationen gebracht –, aber es ließ sich Stimmung damit machen. Die Vorwürfe, die Stresemann von der Rechten (und manchmal auch von der extremen Linken) hinnehmen mußte, speisten sich im wesentlichen aus Ressentiment. Man muß ihm gewiß vorwerfen, daß er in seinen Verhandlungen zum Beispiel mit Briand in Thoiry allzu bereitwillig immer neue Zahlungen des Reiches in Aussicht stellte. Jedoch wäre dieser Preis wohl ohnehin nicht zu vermeiden und die Rückkehr Deutschlands zu nationaler Einheit und Größe wäre ihm vermutlich gar noch mehr wert gewesen. Das mag man kritisieren, bessere Gegenleistungen hätten allerdings wohl nicht ausgehandelt werden können.

        

Seinen Gegnern, zum Beispiel dem General von Seeckt, wäre eine erneute Kraftprobe lieber gewesen. Seeckt und viele andere folgten dem eingängigen, aber katastrophalen Konzept, Deutschland solle seine frühere militärische Macht wieder zurückgewinnen und damit alles zurückerobern, was es verloren habe. Ein völlig unrealistischer Plan, aber mit solcher Kraftmeierei ließ sich die Rechte zusammenbinden. Auch die DVP erlag noch zu Stresemanns Lebzeiten dieser reaktionären Propaganda. Nach seinem Tode geriet sie folgerichtig mehr und mehr ins Fahrwasser der DNVP und schließlich in die Fänge der NSDAP, zu deren Erfüllungsgehilfen sie am Ende zählte.

        

So trug also auch Stresemanns großartige Außenpolitik dazu bei, Deutschland in die Tyrannis zu führen? Man muß es wohl anders formulieren: Auch seine Politik internationaler Verständigung konnte die Katastrophe nicht verhindern. Viele Faktoren kamen zusammen, die schließlich in das Verhängnis führten. Eine Schuld ist freilich nur denen zuzuschreiben, die diesen Weg bewusst und aktiv beschritten. Und zu diesen zählte Stresemann niemals, wenn er auch in einigen innenpolitischen Bereichen eher der Rechten als der Mitte oder gar der Linken zuzurechnen sein mag.

        

Wenn wir absehen von dem bitteren Ende der Weimarer Republik, das vermutlich auch Stresemann nicht hätte verhindern können, was bleibt dann von seiner Politik? Ganz gewiß das große und ehrliche Beispiel seines Willens zur Verständigung, seines Wunsches, die Grenzen zwischen den Nationen und ihre eitlen Machtgelüste nicht noch einmal zum Anlaß von Kriegskatastrophen werden zu lassen. Und ein Beispiel für Patriotismus, der von Herzen kommt und der die Einheit und Würde Deutschlands nicht durch Hybris und Kraftmeierei, sondern im friedlichen Ausgleich mit seinen Nachbarn wiederherstellen wollte. Für diese Ziele hat er gekämpft wie kaum ein anderer in der Weimarer Republik, bisweilen mit Mitteln, die die Grenzen politischer Redlichkeit überschritten haben. Auch wenn er seine Ziele nicht erreichen konnte, so hat er durch sein Beispiel die Außenpolitik in der zweiten deutschen Republik, nach der zweiten großen Katastrophe, sicherlich ganz maßgeblich vorgeprägt. Allerdings waren nach 1945 die Verhältnisse anders, insgesamt die Probleme wohl auch eher zu bewältigen. Einer Persönlichkeit von der Statur Stresemanns hat es bisher in der Bundesrepublik glücklicherweise noch nicht wieder bedurft.

 

 

 

Literatur 

 

Gustav Stresemann: Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden. Berlin 1932/33.

Gustav Stresemann: Schriften. Mit einem Vorwort von Willy Brandt. Berlin 1976.

Rudolf Olden: Stresemann. Berlin 1929.

Edgar Stern-Rubarth: Stresemann der Europäer. Berlin 1929.

Rochus Freiherr von Rheinbaben: Stresemann – Der Mensch und der Staatsmann. Dresden 1930.

Hubertus Prinz zu Löwenstein: Stresemann – Das deutsche Schicksal im Spiegel seines Lebens. Frankfurt a.M. 1952.

Henry Ashby Turner jr.: Stresemann and the Politics of the Weimar Republic. Princeton, New Jersey 1963. (Deutsch 1968 unter dem Titel: Stresemann – Republikaner aus Vernunft.)

Felix Hirsch: Gustav Stresemann – Patriot und Europäer. Frankfurt und Zürich 1964.

Theodor Eschenburg, Ulrich Frank-Planitz: Gustav Stresemann – Eine Bildbiographie. Stuttgart 1978.

Wolfgang Stresemann: Mein Vater Gustav Stresemann. München und Berlin 1979.

Kurt Koszyk: Gustav Stresemann. Köln 1989.

Karl Heinrich Pohl (Hrsg.): Politiker und Bürger - Gustav Stresemann und seine Zeit. Göttingen 2002.

Jonathan Wright: Gustav Stresemann 1878 bis 1929 – Weimars größter Staatsmann. München 2006.