Müller-Münzingen MdB

 

Karl-Heinz Hense

 

Wenn er einige Tage in seinem Wahlkreis gewesen war, tat es ihm jedes Mal wieder richtig gut, im Büro den Briefkopf seines Korrespondenz-Papiers zu betrachten: Reinhard Müller-Münzingen, Mitglied des Deutschen Bundestages. Vor neun Jahren, als er ganz frisch ins Berliner Parlament einzog, war es ihm wie ein Traum vorgekommen, jetzt endlich einer derjenigen zu sein, die das Volk im Bundestag repräsentierten. Fünfzehn Jahre harter Arbeit an der Basis waren diesem Tag vorausgegangen. Er hatte geschuftet wie ein Pferd. Die Familie war oft zu kurz gekommen. Wäre nicht von Zeit zu Zeit auch finanziell etwas dabei abgefallen, wer weiß, ob seine Frau das alles mitgemacht hätte!

         Aber immerhin: Angefangen hatte er als Sachbearbeiter in der Stadtverwaltung; durch seinen nimmermüden Fleiß sowohl im Dienst als auch in der Partei wurde er zwölf Jahre später Leiter des Verkehrsamtes. Eigentlich ein Job für Akademiker, aber man hatte ihn trotzdem genommen. Eine politische Entscheidung. Seine strebsame, aber korrekte Art war allgemein bekannt und geschätzt, da konnte man ihm nichts am Zeuge flicken. Wie es um seine politische Position stand, das wusste er selbst nicht einmal so genau. Jedenfalls war er seit vielen Jahren Mitglied in der Partei und deshalb natürlich nicht ohne Feinde, auch wenn er bei jeder sich bietenden Gelegenheit betonte, Pragmatiker zu sein. Was letztlich zählte, war der Erfolg, und den hatte er immer gehabt. Peu à peu war er in der politischen Hierarchie aufgestiegen. Am Ende wurde er das, was sein Briefkopf aussagte: Mitglied des Deutschen Bundestages.

         Noch einmal hielt der Schriftzug unter dem stilisierten Adler seinen Blick für kurze Zeit fest, dann wandte der Abgeordnete sich dem Stapel von Papier zu, der sich während der Abwesenheit auf seinem Schreibtisch aufgetürmt hatte. Er behandelte die Dinge inzwischen mit Routine, wusste beim ersten Hinsehen meist schon, was er sofort lesen musste, was er zurückstellen und was er gleich dem Papierkorb übergeben konnte. In dieser Weise sortierend rückte er dem Stapel zu Leibe. Wieder nicht viel Interessantes. Die Einladung zum Presseball und den Terminplan für die Sitzungen des Verkehrsausschusses legte er in das mit der Aufschrift „Wichtige Termine“ gekennzeichnete Schubfach. Zum Glück hielt sich auch die Korrespondenz in Grenzen, so daß er nicht allzu viele Antworten diktieren musste. Am Nachmittag stand eine routinemäßige Fraktionssitzung bevor; einiges an Gedrucktem musste er dafür noch lesen. Auch nichts Aufregendes.

         Das Telefon klingelte. Die Sekretärin stellte den Fraktionsvorsitzenden durch. Er möge doch bitte rüber kommen. Etwas Dringendes sei zu besprechen. Müller-Münzingen ging sofort, ein wenig beunruhigt. Was der Vorsitzende von ihm wollen mochte, war ihm ein Rätsel. In den neun Jahren war er noch nie so dringend zitiert worden. Man hatte ihn eher unbehelligt gelassen; die großen Weihen, aber auch die große Verantwortung waren ihm bisher nicht zuteil geworden. In den Medien zählte man ihn zu den Hinterbänklern seiner Fraktion. Und er war’s zufrieden. Schon jetzt schien ihm die Bürde schwer genug, die er zu tragen hatte.

         Er wurde sofort eingelassen, auch kein gewöhnlicher Vorgang. Der Vorsitzende erhob sich und drückte ihm die Hand. Nicht der Platz vor dem Schreibtisch, sondern ein Sessel der Besuchersitzgruppe wurde ihm angeboten. Mit gemischten Gefühlen absolvierte er den einleitenden Dialog, beantwortete die Fragen nach dem persönlichen Befinden, der Familie, der Stimmung im Wahlkreis. Dann kam der Vorsitzende zur Sache: Er sei ja inzwischen ein alter Fuchs in der Fraktion, Verkehrsexperte und bisher ohne Regierungs- oder Fraktionsamt. Nun aber sei es so weit. Erstaunt, wenn auch mit der schicklichen Devotion, sah der Abgeordnete auf. Über ein fragendes „Äh …?“ kam er nicht hinaus. Was sollte das bedeuten? Der Vorsitzende lächelte vielsagend. Nun ja, er sei ja in der Provinz gewesen die letzten Tage, fuhr er fort. Es habe sich einiges getan hinter den Kulissen in Berlin. Bisher alles noch unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Auch die eigene Journaille sei noch nicht informiert. Man habe, von den Turbulenzen der letzten Monate überdeckt, beim Koalitionspartner den Anspruch auf den Staatssekretär im Verkehrsministerium durchgesetzt. Und er habe an ihn gedacht. Müller-Münzingen konnte vor Erstaunen nicht antworten. Er müsse sich dazu im Moment nicht äußern, fuhr sein Gegenüber fort, dies sei ein erstes Gespräch unter Parteifreunden, außer ihm wisse lediglich der Parteivorsitzende davon. Allerdings dürfe man mit der Entscheidung nicht lange warten. Es sei von Vorteil, der Öffentlichkeit eine klare personelle Aussage zu präsentieren. Nun fand der Abgeordnete die Sprache wieder: „Ist das denn schon mit der Fraktion besprochen?“ fragte er in seiner Verwirrung. „Natürlich nicht“, antwortete der Vorsitzende ungnädig, „ich habe Ihnen doch gesagt, daß es sich um ein erstes Gespräch zur vertraulichen Abstimmung handelt. Nicht einmal der Kanzler weiß, wen wir vorschlagen wollen. Sie werden verstehen, daß ich nicht vor die Fraktion treten möchte, ohne die Voraussetzungen mit Ihnen geklärt zu haben.“

         Müller-Münzingen hätte fast weitere törichte Fragen gestellt. Er war viel zu überrascht, als daß er klare Gedanken hätte fassen können. Also sagte er lieber gar nichts, sondern versuchte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck zu zeigen. Der Vorsitzende ließ einige Sekunden verstreichen und fuhr dann fort: „Es wäre gut, wenn Sie mich noch vor der Sitzung heut’ Nachmittag wissen lassen könnten, wie Sie zu meinem Vorschlag stehen. Bis dahin haben wir ja noch ein paar Stunden Zeit.“ Müller-Münzingen schluckte. Daß es so eilig war, hatte er nun doch nicht gedacht. Als er dem strengen Blick des anderen begegnete, quälte er sich die Andeutung eines Lächelns ab und sagte: „Ja, … ich will es versuchen.“ Dann erhob er sich und ging hinaus.

         Ziemlich benommen erreichte er sein Büro und ließ sich in den Schreibtischsessel fallen. Es bedurfte einiger Minuten, ehe er sich die Situation klar gemacht hatte. Er griff zum Hörer und wollte jemanden anrufen. Dann erst überlegte er, wen. Seine Frau kam ihm zuerst in den Sinn. Aber nein, was hätte er ihr sagen sollen? Sie um Rat zu fragen, konnte er sich getrost sparen. Selbstverständlich würde sie sofort von ihm fordern, ja zu sagen. – Ja sagen, was hieß das überhaupt? Was bedeutete das? Er legte den Hörer wieder weg.

         Fast schämte er sich ein wenig, daß ihm als erstes der Dienstwagen mit Stander in den Sinn kam. Seine Frau wäre begeistert. Staatssekretär, damit war Staat zu machen.

         Natürlich ging es nicht nur ums Repräsentieren. Diese Position bedeutete Arbeit, vor allem Arbeit. Verkehrspolitik war sein Spezialgebiet. Seit Jahren beschäftigte er sich damit und seit Jahren galt er als Experte. Allerdings hatte er lediglich parlamentarische Aufgaben wahrzunehmen, wenn man von den handfesteren Belangen in seinem Wahlkreis absah. Die Regierung hatte es vor allem auszubaden, wenn Mehrheitsentscheidungen des Parlaments auf Kritik in der Öffentlichkeit stießen, erst in zweiter Linie die Fraktion. Deshalb war er bisher meist unbehelligt geblieben von öffentlicher Kritik. Zukünftig würde er sich solcher Kritik stellen müssen, das war ihm klar.

         Wieder griff er zum Telefonhörer, und fast ohne weitere Überlegung wählte er die Nummer seines Bezirksvorsitzenden in der Heimat. Er wählte selbst, ließ sich nicht vom Sekretariat vermitteln. Er hatte Glück, der andere war in seinem Büro. Sie waren seit Jahren befreundet, man konnte sagen: Sie waren gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen.

         Müller-Münzingen kam sofort zur Sache: „Ich soll Staatssekretär werden, was sagst du jetzt?“ Eine kurze Weile überraschten Schweigens, dann sagte der Freund: „Staatssekretär? Wo? In welchem Ministerium?“ „Verkehr, wo sonst“, antwortete der Abgeordnete. „Verkehr, ja. Und? Willst du’s machen?“ „Tja, ich weiß nicht. Deswegen rufe ich dich an. Was meinst du?“ Wieder eine Weile Schweigen, dann sagte der Bezirksvorsitzende nachdenklich: „Für die Partei, für unseren Bezirksverband wäre es sicher gut. Wir haben lange keinen Vertreter mehr in der Regierung gehabt. Auch der Landesverband wäre sicher aufgewertet. Traust du’s dir denn zu?“ Jetzt ließ Müller-Münzingen einige Sekunden verstreichen, bevor er antwortete; dann sagte er ein wenig unsicher: „Von der Sache her schon, politisch wird es schwer. Deshalb brauche ich deinen Rat.“ „Tja“, der andere zögerte, „du weißt, wie es bei uns aussieht. Deine Hilfe könnten wir brauchen. Wenn die Regierung die Autobahnpläne fallen ließe, wäre uns sehr geholfen.“ Müller-Münzingen unterbrach ihn fast: „Du weißt, daß wir zugestimmt haben. Nicht nur in der Regierung, auch im Bundestag. Ich kann mich nicht gegen die Regierung und gegen die Mehrheit in der Fraktion stellen, schon gar nicht als zuständiger Staatssekretär!“ „Das verlangt ja niemand von dir“, versuchte der Bezirksvorsitzende ihn zu besänftigen, „es würde schon genügen, wenn wir Zeit gewinnen. Bis zur nächsten Wahl.“

         Der Abgeordnete überlegte ein paar Sekunden, dann sagte er: „Bis zur nächsten Wahl, ja, das könnte gehen. Vorgesehen ist das nächste Teilstück im Haushalt für das kommende Jahr, aber da wir finanzielle Schwierigkeiten haben, ließe sich hier bestimmt mit Sparargumenten eine Verschiebung erreichen. Im übernächsten Jahr allerdings sehe ich keine Möglichkeiten; dasselbe Argument zieht dann nicht mehr. Wirtschaftlichkeitsberechnungen haben schließlich eindeutig bewiesen, daß wir den Verkehrsweg brauchen; auch die Entlastungen …“

         „Laß es gut sein“, unterbrach ihn der andere, „wir müssen die ganze Diskussion nicht noch einmal führen. Für euch in Berlin ist die Situation klar. Für uns hier unten aber gar nicht. Es gibt Umfragen, und die Bürgerinitiativen werden immer lauter und aktiver!“ „Aber ich kann doch nicht aus diesen regionalpolitischen Erwägungen …, man würde mir meine Haltung als Opportunismus auslegen, als blanken Opportunismus. Der Koalitionspartner würde nicht mitspielen, und wer weiß, wie lange ich dann noch Staatssekretär wäre!“ begehrte Müller-Münzingen fast leidenschaftlich gegen seinen Gesprächspartner auf.

         „Lieber Reinhard“, diese Anrede wählte der Freund selten, „eines muß dir klar sein: Und wenn ihr da in Berlin auch tausendmal den Regierungsplänen zugestimmt habt, wir können diese Position hier nie und nimmer vertreten. Die Wähler laufen uns weg, sogar unsere eigenen Mitglieder. Außerdem wirst du dir sicher vorstellen können, was deine zustimmende Haltung für die Kandidatur zur nächsten Wahl bedeutet, schon jetzt. Bisher konntest du das Thema mit Mühe umschiffen, aber als Staatssekretär bist du demnächst die Zielscheibe Nummer eins. Ob die Basis dich dann wieder aufstellen wird, ist mehr als unsicher. Wenn du dich aber auf unsere Seite stellst, wirst du mit einem Bombenergebnis wiedergewählt, das ist klar.“ „Verehrter Herr Vorsitzender“, Müller-Münzingen versuchte ironisch zu sein, „das mag ja alles stimmen, aber wie, bitte sehr, soll ich das der Fraktion und den Regierungsmitgliedern verklickern? Glaubst du denn, die interessiert es, ob ich wiedergewählt werde oder nicht? Die werden von mir eine konsequente Haltung verlangen und mich an mein Votum im Bundestag erinnern. Das ich übrigens zu einer Zeit abgegeben habe, als die von dir so dramatisch dargestellte Haltung der Basis keineswegs klar war. Damals hieß es, wir müssten die Wirtschaft ankurbeln und dazu brauchten wir die Autobahn, erinnere dich bitte!“

         „Damals ist damals und heute ist heute, das weißt du so gut wie ich“, entgegnete der andere, „was ich dir rate, ist dies: Geh’ zum Fraktionsvorsitzenden und sage ihm, Bedingung für die Übernahme des Staatssekretärsposten sei, daß die Fraktion ihre Haltung in der Autobahnfrage ändere. Wenn er drauf eingeht, hast du einen starken Verbündeten. Wenn nicht, hast du Pech gehabt, aber du stehst in der Partei bei uns eins a da. Ich verspreche dir, daß wir von hier aus alles tun werden, um dir den Rücken zu stärken.“

         Der Abgeordnete überlegte einige Sekunden. „Er wird aber nicht drauf eingehen“, sagte er dann, „der Preis wird ihm zu hoch sein. Er wird doch niemals einen Koalitionskrach riskieren, nur weil ich Staatssekretär werden soll.“ „So, und warum nicht?“ fragte der Freund, „gibt es denn einen anderen in der Fraktion? Wen will er denn nehmen, wenn du nein sagst? Krugmeier etwa? Das glaubst du doch selbst nicht. Krugmeier mag viel von Verkehrspolitik verstehen, aber er ist doch viel zu exponiert. Und wie du weißt: derzeit setzt er auf das falsche Pferd. Nein, nein, er wird zunächst versuchen, dich von deiner Bedingung abzubringen, schließlich will er dich für die Regierungslinie einkaufen, das ist klar. Und dann gilt es, hart zu bleiben.“ „Tja“, Müller-Münzingen reagierte nachdenklich, „vielleicht hast du recht – obwohl ich glaube, daß du es dir zu einfach vorstellst. Was soll ich sagen, wenn er mich nach den Gründen für meinen Gesinnungswandel fragt? Soll ich ihm von unserem Gespräch erzählen und davon, daß ich sonst nicht wiedergewählt werde? Von dem großen Verlust, der dem deutschen Volk dadurch entstünde?“

         Der Bezirksvorsitzende überhörte die wenig überzeugende Ironie: „So darfst du ihm natürlich nicht kommen, das ist dir doch genauso klar wie mir. Unsere Position hat ihre Vorteile, das weiß der Fraktionsvorsitzende auch. Sage ihm, die Meinung in der Bevölkerung in deinem Wahlkreis habe sich geändert. Wir stünden vor einer neuen Situation. Die Zeiten des linearen wirtschaftlichen Expansionsdenkens seien vorüber, wir müssten nach neuen, ökologisch verträglichen Wegen suchen. Sage ihm, daß wir mit Maßnahmen gegen den Willen der Mehrheit unsere Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, daß es in solchen Fällen besser ist, seine eigenen Beschlüsse zu korrigieren als sie starrköpfig wider bessere Einsicht durchsetzen zu wollen. Du kennst doch all’ die Argumente. Du bist doch nicht erst seit gestern in der Politik. Daß auch einer unserer Größten es sich nicht verbieten ließ, nach ein paar Jahren ‚wat schlauer jeworden zu sein’, ist allseits bekannt.“ „Quod licet Iovi non licet bovi!“ Müller-Münzingen gab abermals seinem Hang zum Ironischen nach, er lachte in die Sprechmuschel.

         „Hör’ auf mit deiner lateinischen Bildung“, erwiderte der Freund, „das hilft uns jetzt nicht weiter. Ich meine, du solltest es versuchen. Es ist deine einzige Chance.“ „Nein, nein“, sagte der Abgeordnete, „ich habe eine Alternative!“ „Welche?“ fragte der andere. „Nein zu sagen und MdB zu bleiben, einfacher MdB“, sagte Müller-Münzingen. Eine kleine Weile herrschte wieder Stille, dann sagte der Bezirksvorsitzende: „Das könntest du, ja. Aber niemand hätte etwas davon. Der Fraktionsvorsitzende wäre sauer auf dich, wir bekämen einen Staatssekretär, den eigentlich keiner haben will, du hättest Schwierigkeiten bei der Wiederwahl, und die Autobahn würde gebaut, ohne Rücksicht auf Verluste. Hältst du das wirklich für die bessere Möglichkeit?“ „Nein, eigentlich nicht“, sagte der Abgeordnete, „ich will es versuchen. Heut’ Nachmittag ist Fraktionssitzung. Bis dahin muß die Sache klar sein. Wenn er ablehnt, bin ich dumm dran, das weißt du.“ „Er wird nicht ablehnen“, sagte der Freund, „du wirst sehen. Schließlich brauchen wir unsere Wähler.“ „Ja, jeden einzelnen“, bestätigte Müller-Münzingen. Immerhin kam er soeben aus dem Wahlkreis und kannte die Stimmung dort. „Also gut“, fuhr er fort, „ich will es probieren. Jedenfalls danke ich dir für die offenen Worte. Spätestens nach der Sitzung rufe ich dich wieder an.“

         Müller-Münzingen lehnte sich weit im Sessel zurück. Irgendwie hatte er geahnt, daß die Autobahnfrage ihm noch zu schaffen machen würde. Daß es aber so schnell und so massiv kommen sollte, hatte er nicht vorausgesehen. Jetzt hing also der Staatssekretärsposten davon ab, wie er sich zum Autobahnbau stellen würde. „Populismus“, brummte er ein paar Mal vor sich hin, „reiner Populismus.“

         Im Laufe seiner Parlamentszeit hatte er seinen von ihm so empfundenen ‚Mangel an Bildung’ (er litt darunter, weil er die Mittlere Reife plus abgeschlossener Berufsausbildung inmitten von Akademikern für den Ausdruck von Minderwertigkeit hielt - unausgesprochen zwar, aber deshalb nicht weniger schmerzlich) so gut wie möglich auszugleichen versuchte. Er musste von Berufs wegen des öfteren mit hochgebildeten Menschen verkehren. Dabei hatte er sich Fremdwörter sowie Redewendungen in anderen Sprachen, vor allem im Lateinischen abgehört. Diese Ausdrücke merkte er sich und flocht sie mehr und mehr in seine Worte ein, versuchte sich dadurch den Anschein von profunder Bildung zu geben. Und tatsächlich konnte er die Erfahrung machen, daß die Kombination von MdB und Fremdwörtern bei einer Vielzahl von Gesprächspartnern Eindruck machte. Allerdings gab es auch andere, die ihn spüren ließen, daß sie diese Tour eher peinlich fanden - zumal es vorkam, daß er mit seinen fremdsprachlichen Wendungen knapp daneben lag. Dann fühlte er sich stets ertappt und suchte das Gespräch möglichst schnell zu beenden. Solche Erlebnisse waren leider die Wermutstropfen im süßen Wein, für ‚gebildet’ gehalten zu werden.

         „Populismus“ also brummte er vor sich hin. Er war ratlos und wusste nicht, was er wirklich tun sollte. Sollte er dem Rat des Freundes folgen? Hätte er den Mut dazu? Vielleicht würde eine solche Bedingung dem Fraktionsvorsitzenden imponieren. In aller Regel schätzte er selbstbewusste und kämpferische Persönlichkeiten. Andererseits hatte er in der Fraktion und im Plenum zugestimmt …

         Der Abgeordnete ging im Zimmer auf und ab und suchte nach einem Weg aus der Ratlosigkeit. Plötzlich stellte er sich die Frage, warum er eigentlich jetzt schon das Autobahnthema anschneiden müsse. Es hatte doch noch Zeit damit. Er könnte einfach ja sagen und erst in den Verhandlungen zur Verabschiedung des Haushaltsplanes darauf zu sprechen kommen. So hätte er wenigstens ein Vierteljahr Zeit. – Doch nein, er wäre noch gar nicht richtig im Amt, dann würden die Journalisten, sogenannte Parteifreunde, Vertreter von Bürgerinitiativen und andere ihn schon nach seiner Haltung zur Autobahnfrage ausforschen, zumal sein eigener Wahlkreis unmittelbar betroffen war. Es hatte alles keinen Zweck, er musste die leidige Sache mit seiner Entscheidung verknüpfen.

         Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und atmete tief durch. In einem plötzlichen Anfall von ehrlicher Erkenntnis dachte er: ‚Ich bin wahrlich kein Ausbund an Entscheidungsfreudigkeit!’ Doch diese tiefgreifende Erkenntnis machte ihn eher noch ratloser als zuvor. Nach einer Weile dumpfen Brütens murmelte er zu seinem eigenen Erstaunen vor sich hin: „Wenn ich nicht wiedergewählt werde … Warum will ich eigentlich wiedergewählt werden?“ Sicher, die Abgeordnetenpension war kein Staatssekretärssalär, aber er hatte sein schuldenfreies Haus, und er hatte gute Beziehungen. Im öffentlichen Dienst war er beurlaubt, wenn es ihm auch nahezu unmöglich zu sein schien, dorthin zurückzukehren. Trotzdem: „Was also hindert mich daran, konsequent zu bleiben?“ fragte er sich. „Was andererseits hält mich davon ab, das Risiko einzugehen und vom Fraktionsvorsitzenden mit meiner Forderung zurückgewiesen zu werden?“ fragte er gleich hinterher. Was er eigentlich selber wollte, wusste er nicht. Er wusste nur, was die anderen von ihm wollten; und es war ihm noch nie so schwer gefallen wie jetzt, sich auf die richtige Seite zu schlagen.

         Das Telefonklingeln unterbrach ihn jäh in seinen Gedanken. Das Sekretariat stellte den Fraktionsvorsitzenden durch. „Ich will Sie nicht drängen“, sagte er, „aber die Sitzung beginnt in einer halben Stunde. Haben Sie sich entschieden?“

         Am nächsten Tag lasen die erstaunten Bundesbürger in den Zeitungen, der Bundestagsabgeordnete Reinhard Müller aus Münzingen, langjähriger Verkehrsexperte seiner Fraktion, solle zum parlamentarischen Staatssekretär im Verkehrsministerium ernannt werden. Einige Zeitungen berichteten darüber, daß durch seinen Wahlkreis, zu dem ein großes Naturschutzgebiet gehörte, eine Autobahn gebaut werden solle. Man habe sich bemüht, die Meinung des künftigen Staatssekretärs zu diesem Thema zu erfahren, er habe sich dazu jedoch nicht geäußert. Das Ministerium indes gehe davon aus, daß er bei seiner zustimmenden Haltung zum Autobahnbau auch angesichts wachsender Proteste in der eigenen Partei bleiben werde.