Liberale Kulturpolitik

 

Karl-Heinz Hense

 

Einleitung

 

Im Jahre 1918 spottete Thomas Mann, sein Bruder Heinrich sei nur ein „Zivilisationsliterat“. Mit dieser Sottise spielte er unter anderem auf die politisch motivierten Romane des älteren der beiden Brüder an, auf „Professor Unrat“ und „Der Untertan“ zum Beispiel. Thomas Mann (1875 – 1955) stand damit und mit seinem bis heute stark beachteten Buch „Betrachtungen eines Unpolitischen“ aus demselben Jahr in jener geistigen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts, die der kulturellen Identität der Deutschen einer politischen gegenüber den Vorzug gab. Weil es bis 1918 nicht gelungen war, ein einiges Deutschland zu schaffen, das die Kleinstaaterei überwunden und ein breites politisches Nationalbewusstsein hätte bewirken können – auch die Reichsgründung von 1871 leistete dies nur oberflächlich, sie festigte vor allem den Feudalismus und die Vorherrschaft des mancherorts verhassten Preußen -, leiteten insbesondere die Intellektuellen die deutsche Identität aus dem reichen kulturellen Leben ab, das vor allem in der Zeit der deutschen Klassik, der Romantik und des Idealismus eine Fülle an bis heute auch international bewunderten Leistungen hervorbrachte.

 

Das Politische wurde mit dem Zivilisationsbegriff gleichgesetzt, den Thomas Mann, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Richard Strauss und viele andere Vertreter der deutschen Hochkultur noch in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts pejorativ verwendeten, während die deutsche Kultur das Qualitäts-Siegel von höchster Intelligenz, Phantasie und von „Tiefe“ trug. Wolf Lepenies, der Soziologe und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, schreibt dazu in seinem Buch „Kultur und Politik - Deutsche Geschichten“: „Deutsche Tiefe gegen westlichen Rationalismus auszuspielen – das hieß, den alten Gegensatz von Kultur und Zivilisation aufzufrischen.“ Und in einem späteren Kapitel, in dem er sich mit den Büchern des Anthropologen Helmuth Plessner (1892 – 1985) befasst (vor allem mit dem 1935 im holländischen Exil geschriebenen „Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“, das 1959 unter dem Titel „Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes“ Berühmtheit erlangte), kennzeichnet er die Abneigung des deutschen Bürgertums gegen alles Politische mit folgenden Worten: „Die Gefahr des sentimental überhöhten Kulturbegriffs lag darin, dass er politisches Handeln zu einer Aktivität niederen Ranges herabstufte.“ Der Kulturpolitiker Carlo Schmid (1896 – 1979), einer der Väter unseres Grundgesetzes, bestätigt diesen Befund und schreibt dazu: „Man entwickelte eine regelrechte Metaphysik der ‚Tiefe’, man war stolz darauf, dass wir Deutschen besonders tief seien, im Gegensatz zu den Menschen der schönen Oberfläche, und mancher vergaß dabei ein bitteres Wort Nietzsches aus dem ‚Zarathustra’, der von diesen Ideologen der Tiefe sagt, sie trübten oft ihr seichtes Wasser, damit es tief erscheine.“

 

Die deutsche Wertehierarchie führte „von den Höhen der Kultur zu den Niederungen der Politik“ und war mehr als ein Jahrhundert lang prägend für die Trennung zwischen Denken und Handeln, Geist und Macht. Dazu wiederum Carlo Schmid: „Die deutsche Geschichte ist charakteristisiert durch einen verhängnisvollen Absentismus der Bildungsschichten von der Politik, wobei Politik bedeutet (…) die Gestaltung der Inhalte und Formen der Lebensordnungen der Nation.“ Diesen „Absentismus“ hat zu Beginn des letzten Jahrhunderts der liberale Theologe, Schriftsteller und Politiker Friedrich Naumann (1860 – 1919) in seinen Reden und Schriften immer wieder angeprangert; er sah darin ein für die deutsche Nation lange Zeit schicksalhaftes Versagen des Bürgertums. Paul Gert von Beckerath schreibt dazu: „Naumanns Vorwürfe richten sich vor allem gegen die Schicht der Gebildeten, denen das politische Kleinhandwerk in Ausschüssen und politischen Ortsvereinigungen inferior erscheint. Sie betrachten Politik als ‚schmutzig’ und beschwören die Gefahr herauf, dass durch ihr Fernbleiben vom Alltag der Politik diese zu einem ungebildeten Tun wird. Damit kann die ‚Kluft zwischen Staatsbürgertum und Bildungsideal so breit werden, dass man schließlich von einem Menschen, der sich den öffentlichen Dingen widmet, glaubt, extra versichern zu müssen, dass er trotzdem nicht ungebildet sei’.“

 

Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe war es, der die Unvereinbarkeit von Politik und Kultur besonders in seinen späten Jahren immer wieder betont hatte; auf ihn beriefen sich deutsche Intellektuelle, wenn sie dem Diktum Thomas Manns, Politik sei ein schmutziges Geschäft und verderbe den Charakter, Nachdruck verleihen wollten. Der Historiker Gordon A. Craig (1913 – 2005) schreibt dazu: „Und von Frédéric Soret erfahren wir, dass der Gedanke an den Tod ihm [Goethe] weniger Sorgen bereitete als ‚die Wichtigkeit, die man jetzt politischen Fragen auf Kosten der Literatur und der Wissenschaft beilegt’. Die Intensität seiner Empfindungen in diesem Punkt trug zweifellos dazu bei, dem antipolitischen Ressentiment, zu dem sich im 19. Jahrhundert so viele Deutsche bekannten, Legitimität zu verschaffen.“ Wolf Lepenies hat ausführlich dargelegt, dass dieses Ressentiment in weiten Kreisen der deutschen Intelligenz bis tief in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg erhalten blieb.

 

Mit dem Ende der Fünfziger und dem Beginn der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts wandelte sich das Verhältnis der Westdeutschen zur Politik. Das liberale Grundgesetz, die Demokratie und vor allem die Erfolge der sozialen Marktwirtschaft erfuhren bei der Mehrheit des Volkes Anerkennung; es entwickelte sich eine politische Normalität, die durchaus mit der in anderen westlichen Staaten vergleichbar wurde. Die Kultur als positiver Gegenpol zur Politik büßte allmählich ihre Leitfunktion und ihren überragenden Nimbus ein; sie war nun nicht mehr mit Vorrang für ein nationales Selbstbewusstsein des deutschen Bürgertums maßgeblich. Politik und Demokratie verloren mehr und mehr ihr negatives Image, wozu das Ansehen integrer und respektabler Politikerpersönlichkeiten wie Theodor Heuss, Konrad Adenauer und Kurt Schumacher ganz wesentlich beitrug.

 

Diese Situation veränderte sich zunächst auch in den Jahren nach der Wiedervereinigung von 1989 nicht. Erst um die Jahrtausendwende kam vor allem im Osten Deutschlands eine demokratie-skeptische Stimmung auf, die mit einer rückwärtsgewandten, irrationalen Nostalgie verbunden ist und eine spießbürgerlich-sozialistische Kultur zu einer Art verlorenem Paradies stilisiert. Indessen kennzeichnet diese Stimmung auch eine Trotzreaktion auf enttäuschte Erwartungen, die mit dem kapitalistischen Westen Deutschlands das Schlaraffenland verbunden und die „blühenden Landschaften“ als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung missverstanden hatten. Die Akzeptanz einer demokratischen Kultur mag darunter für eine Übergangszeit leiden, auf Dauer dürfte sie sich aber in gleicher Weise stabilisieren, wie dies in den sechziger Jahren in der alten Bundesrepublik der Fall war.

 

Der hier vorliegende Text will das Verhältnis von Kultur und Politik vor allem in Deutschland, wie es sich im Bezug auf einschlägige Begriffe und Zusammenhänge darstellt, untersuchen. Besonderes Interesse finden dabei dem politischen Liberalismus und seiner Geschichte verpflichtete Befunde und Fragestellungen. Es werden sowohl die historische Entwicklung der Kulturpolitik bzw. des Verhältnisses von Kultur und Politik als auch damit verbundene inhaltliche Aspekte des Begriffspaares ins Auge gefaßt. Auf eine fortlaufende Argumentation und eine entsprechende stringente Systematik wird verzichtet, damit die einzelnen Kapitel jeweils auch für sich stehen können. Diese Vorgehensweise soll gleichzeitig dazu dienen, aus den unterschiedlichen Aspekten der Kulturpolitik je spezifische Veranstaltungen bzw. Bausteine für Veranstaltungen abzuleiten, mit deren Hilfe das komplexe Thema in der politischen Bildung vermittelt werden kann. Aus der Fülle an Literatur, die sich zu dem hier Behandelten auffinden läßt, wurden neben allgemein anerkannten Informationen Texte herangezogen, die nach Ansicht des Verfassers besonders prägnante und/oder originelle Aussagen zum Thema enthalten. Autoren sowie Begriffe und ihre Definitionen, die insbesondere einer liberalen und demokratischen Politikauffassung verpflichtet sind, wurden vor allem berücksichtigt.

 

Die Zitate stammen sämtlich aus der im Anhang verzeichneten Literatur. Über Bücher und Schriften hinaus, die im Text zitiert werden, enthält das Verzeichnis nur allgemein hilfreiche Literatur zum Thema „Kulturpolitik“ und zu den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit. Es wird bewusst darauf verzichtet, Vollständigkeit anzustreben.