Vom unwirklichen Leben und vom umtriebigen Tod

 

Paul Delvaux Retrospektive in Brüssel

 

 

Bis zum 27. Juli 1997 ist in den Königlichen Museen für Schöne Künste, Brüssel, die bisher größte Ausstellung von Gemälden und Zeichnungen des belgischen Künstlers Paul Delvaux zu sehen, die bisher zusammengestellt wurde. Anläßlich seines 100. Geburtstages am 23. September 1997 haben die Organisatoren 120 Gemälde und 130 Arbeiten auf Papier ausgewählt; damit wird ungefähr ein Drittel des gesamten Oeuvres gezeigt. Zusätzlich sind Skizzenblocks, Fotografien aus dem Leben des Meisters, Briefe und Erinnerungen zu sehen. Mit dieser monumentalen Ausstellung holt das Heimatland des Künstlers nach, was ihm bisher eher im Ausland zuteil wurde: während seine Werke zu seinen Lebzeiten unter anderem in Holland, Frankreich, England, Deutschland, Japan und den USA ausgestellt wurden und auf ein beachtliches Interesse des Publikums stießen, hat Belgien ihn eigentlich eher stiefmütterlich behandelt. Um so erfreulicher, daß es nun gelungen ist, über die Bestände der Königlichen Museen hinaus Leihgaben aus aller Welt zusammenzutragen, die erstmals erlauben, das umfangreiche Werk in einer repräsentativen Gesamtschau vorzustellen.

 

Paul Delvaux wird 1897 in Antheit bei Huy geboren. Schon früh fühlt er sich angezogen von phantastischen Darstellungen in der Literatur, etwa der Dichtung des Jules Verne, aber auch von Symbolen des Todes und des Vergänglichen: von menschlichen Skeletten. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Saint-Gilles belegt er 1918/19 Kurse an der Académie des Beaux-Arts in Brüssel und beginnt selbst professionell zu malen. In dieser Zeit entdeckt er die technische, strengen Formen verpflichtete Welt der Züge und Bahnhöfe, die später eines der wichtigsten Merkmale seiner Werke sein wird. 1923 stellt er, unter anderem zusammen mit René Magritte, seine Bilder zum ersten Mal in einer Brüsseler Gruppenausstellung vor. Allmählich werden nun Frauengestalten zum auffallendsten Motiv seiner Arbeiten.

 

1928 lernt er seine spätere Lebensgefährtin Anne-Marie de Martelaere kennen. Er verliebt sich sofort in sie, jedoch sind seine Eltern gegen eine Verbindung. - Die Stilrichtung des Expressionismus, insbesondere die Werke von Permeke und Gustave de Smet, beeinflussen von jetzt an zunehmend seine Malerei. Das entscheidende Erlebnis aber ist die Begegnung mit den Werken Giorgio de Chiricos 1934. Von ihm vor allem leitet Delvaux seine Bildersprache ab, die in der Kritik dem Surrealismus oder dem phantastischen Realismus zugeordnet wird. Seine Bilder werden aufgenommen in surrealistische Ausstellungen, die in Paris, Amsterdam und London gezeigt werden. Die beherrschenden Elemente sind nun ganz oder teilweise nackte, üppige Frauenkörper, vermenschlichte, umtriebige Skelette und Gleisanlagen mit Bahnhöfen, Zügen sowie anderem Eisenbahn-Zubehör.

 

Während seiner Studien hat sich Delvaux auch mit Architektur beschäftigt. Das schlägt sich in der Komposition seiner Bilder als perspektivische Darstellung von Gebäuden, Plätzen, Straßen, Schienensträngen und geometrischen Parkanlagen nieder. Auch die Antike, mit der er sich schon auf dem Gymnasium befaßt hatte, findet ihren Ausdruck: Tempel und Säulenkonstruktionen bilden immer wieder die Umgebung seiner zentralen Motive, auch nimmt er Figuren aus der antiken Mythologie in seine Werke auf. Sich selbst und seine Freunde zeichnet und malt er gelegentlich in seine Bilder hinein und gibt dadurch Veranlassung zu Spekulationen über eventuelle reale Botschaften, die er freilich zurückweist und die auch später keinerlei Bestätigung erfahren.

 

1944/45 dreht Henri Storck einen Kurzfilm über Delvaux und sein Werk: "Le monde de Delvaux". Zwei Jahre später, nachdem er sie zwischenzeitlich aus den Augen verloren hatte, trifft Delvaux Anne-Marie de Martelaere wieder (er hat ihr den Spitznamen "Tam" gegeben), sie heiraten 1952. - Auf der 24. Biennale von Venedig wird 1948 sein Gemälde "Pygmalion", auf dem eine nackte Frau ein männliches Marmor-Standbild umarmt, für unmoralisch erklärt. - 1950 wird Delvaux Professor für Monumentalmalerei an der Ecole nationale supérieure d'Architecture et des Arts décoratifs de la Cambre in Brüssel. Er unterrichtet dort bis 1962. Auf der 27. Biennale stellt er 1954 Gemälde mit religiösen Themen aus, allerdings treten Skelette an die Stelle menschlicher Figuren, zum Beispiel des Heilands am Kreuz und der Schächer. Der spätere Papst Johannes XXIII. rät daraufhin den Gläubigen von einem Besuch des belgischen Pavillons auf der Biennale ab.

 

Mit den Bildern der ersten belgischen Retrospektive Delvaux' im Jahre 1962 löst er einen Skandal aus. Vor allem "La visite", auf dem eine sitzende nackte Frau einen halbwüchsigen, nackten Jungen empfängt, wird von der Kritik als anstößig empfunden. Vom Beginn der 60er Jahre an läßt sich indessen Delvaux' internationaler Ruhm nicht mehr verkennen. In vielen Ländern der westlichen Welt finden Ausstellungen statt, er empfängt eine Fülle von Ehrungen, es erscheinen Bücher über ihn, und er gilt als einer der Großen des Surrealismus, nach dem Museen und eine Stiftung benannt werden. Zunehmend erhält er auch öffentliche Aufträge. So fertigt er zum Beispiel ein Monumental-Gemälde für die Brüsseler Metro-Station "Bourse" an. - 1983 beginnt sein Augenlicht schwächer zu werden. Er hört auf zu malen und zeichnet nur noch. Schließlich erblindet er fast ganz. 1989 stirbt Tam, Delvaux folgt ihr am 20. Juli 1994, 96jährig, nach. Auf dem Friedhof von Furnes, seinem letzten Wohnort, liegt er begraben.

 

Besucht man die Ausstellung im Königlichen Museum in Brüssel, so wird man mit einer Bilderfülle konfrontiert, die einen angesichts ihrer Monumentalität zu erschlagen droht. Dies um so mehr, als sich die zentralen Motive, die überdimensionalen nackten Körper, die fast bedrohlich wirkenden Skelette, die geometrischen, perspektivisch gemalten Linien der Häuserfluchten, Straßen und Bahnlinien sowie die Eisenbahnen und Bahnstationen selbst, ständig wiederholen. Sieht man von der Frühphase bis etwa 1930 ab, so kreist das gesamte Werk Delvaux' nur um diese zentralen Elemente. Freilich kann der Betrachter, wenn er sie eingehender studiert, eine gewisse, von Bild zu Bild zunehmende Irritation kaum vermeiden, und sie geht nicht nur von den dargestellten Motiven aus, vielmehr wurzelt sie eher in der Art und Weise, wie sie gemalt und komponiert sind. Versucht man sich nun in ein Bild zu vertiefen, so kann man sich der irrealen Welt, die hier auf den Besucher eindringt, und ihrer eigenartigen Faszination bald nicht mehr entziehen.

 

Während die prallen, üppigen Frauenkörper, denen Bilder von Rubens als Vorlagen gedient haben könnten, auf eine seltsame Weise leblos wirken, scheinen die Skelette geschäftig alltäglichen Obliegenheiten nachzugehen, die in der Wirklichkeit Sache lebender Menschen sind, oder sie übernehmen etwa aus der Bibel bekannte Rollen, die dort freilich keineswegs mit knöchernen Gestalten besetzt sind. Zumal die phantastische Kombination seiner Elemente, die Delvaux in manchen Bildern vornimmt, vertieft das Gefühl des Irrealen. André Breton, der die Malerei Delvaux' verehrte, meinte, je kühler und exakter die Beziehungen zwischen zwei miteinander in Verbindung stehenden Wirklichkeiten dargestellt wären, desto eindrucksvoller wäre ein Bild. Diese Art der Darstellung trifft auf die Arbeiten Delvaux' ganz sicher zu. Man könnte die paradoxe Beschreibung wählen, daß er ihre Elemente miteinander verbindet, indem er sie voneinander abgrenzt, ihnen jeweils eine nur ihnen gehörende Charakteristik gibt und sie surreal aufeinander bezieht.

 

Aber diese Technik allein kann den Eindruck nicht erklären, den die phantastischen Welten vermitteln. Es ist wohl vor allem die geheimnisvolle Verfremdung, die den Betrachter in ihren Bann zieht; die kühle, bisweilen marmorne Schönheit, die Delvaux seinen Frauenkörpern verleiht, das Loslösen von unserer Wirklichkeit, indem er einzelne ihrer Details, etwa die großen dunklen Augen, in einen manchmal grotesken, immer aber penetranten Gegensatz zur unnatürlich blassen, anämischen Haut treten läßt. Diese Augen vor allem sind es wohl auch, die jenen Eindruck von Melancholie erwecken, von atmosphärischer Traurigkeit, die viele Bilder zu beherrschen scheint und die ihnen die Anmutung entrückter, starrer Leblosigkeit verleiht. - Seine "lebenden Skelette" dagegen bilden einen Widerspruch in sich; sie haben ihr Irreales wegen der ihnen fremden Funktionen, die sie geschäftig ausüben. Und seine geometrischen, perspektivischen Formen, die Gleise und Eisenbahnen, die Häuser und Paläste, stehen meist hinter, vor oder inmitten einer Welt, der sie nicht zugehörig sind. Und wenn sie für sich allein stehen, so bilden sie eine gezirkelte Wirklichkeit, die unserem täglichen Erleben keineswegs entspricht.

 

Als ich durch die Ausstellung ging, schloß ich mich für eine Weile einer Gruppe halbwüchsiger Schülerinnen und Schüler an, die von ihrem Kunstlehrer angeführt wurde. Ich war gespannt darauf, wie er ihnen die Bilder erklären, welche Bedeutung er ihnen beilegen würde. Ich erwartete wohl etwas ähnlich dem, was früher allzu oft üblich war im Kunstunterricht (und heute auch noch?), daß der Lehrer sich der Frage zuwende: "Was will der Künstler uns damit sagen?" Angenehm überraschte mich jedoch, wie der junge Mann seinen Schülerinnen und Schülern Delvaux dann nahebrachte. Er machte vor ausgewählten Bildern halt und erläuterte die einzelnen Elemente, ihre Herkunft im Bezug auf die Biographie Delvaux', ihre Bezüge zur Kunst- und Kulturgeschichte sowie die Kompositionsform, mit deren Hilfe der Meister die Elemente zu einem Bild zusammengefügt hat. Und er machte sein Publikum auf verborgene Details aufmerksam, von denen es eine Fülle in den Bildern Delvaux' gibt, die man erst richtig entdeckt, wenn man ganz genau hinschaut - etwa was das Interieur von Zimmern oder die Flora der Landschaftsgemälde betrifft. Über eine Botschaft sagte der Lehrer nichts. Als ihn ein Schüler schließlich ungeduldig fragte, was das Ganze denn nun solle, gab er ihm zur Antwort, das müsse jeder für sich herausfinden. Es gebe keine eindeutige Aussage, nur die Gewißheit, daß jeder Betrachter anders, individuell reagieren werde. Wichtig sei, so fügte er noch an, als der Frager ein wenig irritiert blickte ob dieser dürftigen Antwort, wichtig sei die Bereitschaft, sich auf die Bilder einzulassen, sie wirken zu lassen und ihnen Zeit zu geben. Den Schüler schien das noch immer nicht zu befriedigen. Dann könne ja auch sein, daß jemand am Ende überhaupt nichts Rechtes über die Absichten von Delvaux herausfinden werde, meinte er ein wenig trotzig und kokett. Ja, sagte der Lehrer, das könne durchaus sein.

 

Freunde und Verehrer des Malers, etwa Emile Langui, sind davon überzeugt, daß Delvaux in einer anderen Welt lebte, die mit unserer landläufigen Rationalität, mit der Logik, von der auch Sigmund Freud meinte, daß sie nur eine Prothese sei, kaum etwas zu tun hat. Langui schrieb 1989, als Delvaux schon nicht mehr malen konnte: "Alle diese endlosen Alleen entspringen dem Kern unserer nostalgischen Sehnsüchte, aus ihm steigen die Mitternachtssonnen, aus ihm kommen die Töchter der Schwermut. Der Reisende im Nachtzug am Bahnhof des Jenseits, der Kunde im Haus der blonden und dunkelhaarigen Venus, der Pirat in der kleinen Gasse der Sirenen oder der Laternenanzünder in der Straße der blauen Straßenbahnen ... das seid Ihr, das bin ich, immer abwesend, immer erwartet. - Aber auch für uns gilt 'Das Spiel ist aus'. Aber nicht für Paul Delvaux, glaube ich zumindest." Delvaux selbst hat, nach seinem Selbstverständnis befragt, immer wieder darauf hingewiesen, daß ein Bild nicht die Wirklichkeit sei, sondern eben "nur" ein Bild. Das erinnert an die berühmten Werke von René Magritte, auf denen er etwa objektgetreu eine Pfeife abmalt, um darunter zu schreiben: "Ceci n'est pas une pipe". Es ist eben keine Pfeife, sondern Kunst.

 

Paul Delvaux hat der Wirklichkeit, die ihn interessierte oder gar faszinierte, Elemente entnommen: die üppigen Frauenkörper, schmächtige nackte Jünglinge (in denen er oft sich selbst porträtierte), Schaustücke aus dem Musée Spitzner (einem Raritäten- und Kuriositäten-Kabinett auf dem Brüsseler Jahrmarkt), menschliche Skelette (denen er schon in der Volksschule begegnete), Eisenbahnen und Bahnhöfe, architektonische und geometrische Konstrukte, Figuren und Szenen aus der Bibel (zum Beispiel die Verkündigung) - und hat ihnen in seinen Bildern eine neue Realität gegeben. Diese kann man wohl tatsächlich nicht mit der landläufigen Rationalität und Logik erfassen. Vielleicht ist sie kongenial vermittelbar, wie es der Dichter Paul Eluard, ein anderer Bewunderer Delvaux', 1938 in einem Gedicht versucht hat:

 

 

Exil

 

                                                               à Paul Delvaux

 

Parmi les bijoux les palais des campagnes                    

Pour diminuer le ciel

De grandes femmes immobiles

Les jours résistants de l'été

 

Pleurer pour voir venir ces femmes

Régner sur la mort rêver sous la terre

 

Elles ni vides ni stériles

Mais sans hardiesse

Et leurs seins baignant leur miroir

Oeeil nu dans la clairière de l'attente

 

Elles tranquilles et plus belles d'être semblables

  

Loin de l'odeur destructrice des fleurs

Loin de la forme explosive des fruits

Loin des gestes utiles les timides

 

Livrées à leur destin ne rien connaître qu'elles-mêmes.

 

 

 

 

Exil

 

                                                              für Paul Delvaux

 

Unter dem Gold den Palästen der Felder

Zu schmälern des Himmels Ruhm

Frauen mächtig und unbewegt

Die lastenden Tage des Sommers

 

Tränen läßt fließen das Kommen der Frauen

Sie gebieten dem Tod im Traum von der Erde gelöst

    

Nicht welk sind sie nicht steril

Jedoch ohne Mut

Ihre Brüste tauchen ein in die Spiegel

Schutzloses Auge im hellen Schein der Erwartung

 

Ruhe verströmen sie und schöner noch ist ihr Sanftmut  

                      

Weitab vom giftigen Odem der Blumen

Weitab von der Explosivkraft der Frucht

Weitab von Nutzen und Furcht der Gebärden

 

Hilflos ihrer Bestimmung ausgeliefert wissen sie von nichts als sich selbst.

                      

 

 

Die Ausstellung ist bis zum 27. Juli 1997 jeweils Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr geöffnet, Mittwoch bis 21 Uhr. Anschrift: Musée d'Art ancien, rue de la Régence 3, B-1000 Bruxelles. Eintrittspreis: DM 24,-; Kinder kostenlos. - Katalog: 320 Seiten, DM 65,-; nur im Museum erhältlich.